
Miller Reese Hutchinson ist so eine Art „Vater der Hörgeräte-Industrie“. Er war nicht der erste, der ein Hörgerät gebaut und zum Patent angemeldet hat; das war der Berliner Ohrenarzt Louis Jacobson. Aber Miller Reese Hutchinson hat ein Hörgerät gebaut und zum Patent angemeldet. Und er hat das Gerät – anders als Jacobson – sehr erfolgreich vermarktet. Er war nicht nur Erfinder, sondern auch exzellenter Verkäufer.
Ein Edison-Fan und ein sündhaft teurer Zwölf-Kilo-Kasten
Als Miller Reese Hutchinson zwölf Jahre alt war, war er ein Fan von Thomas Alva Edison. Er soll alles über Edison gelesen haben. Und seinem Vater erklärte er: „Eines Tages werde ich Ingenieur bei Edison“. Als er noch zur Schule ging, erfand Hutchinson einen Blitzableiter für Telegrafenleitungen. Und er hatte einen Freund, der durch eine Scharlach-Erkrankung ertaubt war. Der soll ein wichtiger Antrieb für Hutchinsons Hörgerät gewesen sein.
Nach der Schule wurde Hutchinson Elektro-Ingenieur. Erst ging er als Freiwilliger in den Spanisch-Amerikanischen Krieg, dann baute der den Prototypen eines Hörapparats, der Schallschwingungen in Spannungsschwankungen umwandelte. Um mehr über die Anatomie des Ohres zu lernen, belegte er Kurse im Medical Collage von Alabama. Sein Apparat war zuerst ein Tisch. Das war unpraktisch, weil Menschen selten Tische tragen.

Also baute Miller Reese Hutchinson das Gerät transportabler und nannte es Acousticon. Dieser Hörapparat hatte ein Mikrofon mit Kohlebröseln, eine Batterie und einen Hörer; einstellen konnte man nichts. Dafür wog der Acousticon zwölf Kilo. Hutchinson gründete eine Firma namens Akuophone und baute den Hörapparat in Serie. Er kostete 400 Dollar; heute soll das etwa 12.500 Dollar entsprechen. Der Apparat war also sündhaftteuer, doch die Presse schrieb von einem „Wunder“. Vielleicht war das nur ein PR-Ding und von Hutchinson eingefädelt. Er hatte so einige Marketing-Ideen. Es gibt z. B. ein Foto, auf dem die Opernsängerin Susanne Adams für einen taubblinden Jungen singt, der sie mit dem Acousticon hört. Auch das Foto soll eine Idee von Hutchinson gewesen sein. Sein tauber Schulfreund probierte den Acousticon ebenfalls. Er soll eine Rede und Klaviermusik gehört haben.
Ein Anruf aus Buckingham Palace und ein königliches Hörproblem
Vor allem war Hutchinson Erfinder. Als er starb, hatte er um die 1.000 Patente – fast so viele wie Edison. Er baute zum Beispiel das erste elektrische Audiometer. Mit dem konnte man messen, wie gut jemand hört – Hörleistung und Tonbereich.
Um den Leuten sein Hörgerät vorzustellen, ging Miller Reese Hutchinson auf Tournee – erst in den USA und dann in Europa. Als er in England war, bekam er einen Anruf aus Buckingham Palace. Die dänische Prinzessin Alexandra war schwerhörig. Alexandra war nicht mehr ganz jung, auch wenn sie auf einem Gemälde, das damals entstand, sehr jung aussieht. Sie war 56 und seit knapp 40 Jahren mit Edward, dem Prinzen von Wales, verheiratet. Schwerhörig war sie schon seit der Geburt, später hörte sie noch weniger. Sie soll ziemlich einsam gewesen sein.

Prinz Edward hingegen war ein „Dandy“ und Frauenheld. Seine Mutter, Königin Victoria, hatte seine Ehe mit der Prinzessin arrangiert. Die Ehe soll glücklich gewesen sein; d. h. Edward hatte ständig neue Frauengeschichten, aber die Prinzessin soll es ihm verziehen haben. Dann starb Königin Victoria. Edward sollte gekrönt werden – zu König Edward VII. Und Alexandra sollte Königin werden. Aber sie war ja schwerhörig und würde die Krönungszeremonie in der Kathedrale von Westminster nicht hören… Hier kam Hutchinson ins Spiel.
Eine begeisterte Prinzessin und ein Platz in der Königsloge
Edward und Alexandra luden den Erfinder auf ihre Yacht ein, mit der sie gerade in der Nordsee rumkreuzten. Hutchinson nahm seinen Hörapparat und ließ sich zum Prinzenpaar schippern. Alexandra war vom Apparat begeistert. Hutchinson bekam ein königliches Honorar und durfte während der Feierlichkeiten in der königlichen Loge sitzen. Die Prinzessin soll während der Zeremonie wunderbar gehört haben. Den schweren Apparat schleppte ein Diener hinter ihr her.
Die Nachricht, dass die neue Königin die Krönungszeremonie mit Hutchinsons Apparat gehört hatte, ging um die Welt. Fotografieren war verboten. Aber es gibt das Gemälde von der (sehr jungen) Prinzessin mit dem Hörapparat. (D. h. es gibt ein Foto vom Gemälde, das Gemälde selbst ist verschollen.) Und Hutchinson wurde berühmt.

Er brachte einen preiswerteren Hörapparat auf den Markt (nur 60 Dollar). Sein Hörgerät wurde auf der Weltausstellung in St. Louis gezeigt und galt als „das beste elektrische Hilfsmittel für Halbtaube, das je erfunden wurde“. Dennoch blieb es sperrig und die Batterien mussten ständig gewechselt werden.
Edison, gefährliche Autos und Hutchinsons Schrei-Hupe
Dann verkaufte Hutchinson die Rechte für das Acousticon an Kelley Monroe Turner. Der verbesserte das Gerät und baute zum Beispiel eine Regelung für die Lautstärke ein. Ein paar Jahrzehnte später wurden statt des Kohlemikrofons kleine Vakuumröhren verbaut. Man nutzte aber immer noch den Markennamen Acousticon und warb 45 Jahre nach der Krönung immer noch mit der Prinzessin. Die Hörgeräte hießen deshalb „Coronation“ und „Imperial“.
Miller Reese Hutchinson wurde dann wirklich Chef-Ingenieur bei Edison. Dort baute er Akkumulatoren für U-Boote und das erste elektrische Tachometer für Schiffe. Beide Erfinder sollen befreundet gewesen sein, und Edison soll Hutchinson „Hutch“ genannt haben. Aber dann packte Hutchinson seine Patente ein, verließ Edison und saß fortan in der 51. Etage des Woolworth Buildings in Manhattan, damals das höchste Haus der Welt. Dort erfand er einen Apparat, der bis zu 40 Blatt Papier auf einmal binden konnte, eine Nietpistole, einen Benzinzusatz, der den Ausstoß von Kohlenmonoxid verringert, und eine Auto-Hupe, die vielen Menschen das Leben gerettet haben soll.

In New York fuhren damals viele Autos. Aber alle hatten Glocken oder zarte Hupen, die mehr wie Musikinstrumente waren. Hutchinson hingegen erfand eine Hupe mit sehr unangenehmem Geräusch. (Ich habe es hier gefunden.) Er nannte sie Klaxon-Hupe (sozusagen Schrei-Hupe.) Der Bürgermeister von New York soll stolz darauf gewesen sein, dass er dank der Hupe das lauteste Auto der Stadt hatte. Und eine vergoldete Schrei-Hupe soll in die Limousine des britischen Königs eingebaut worden sein. Aber es gab dann billige Plagiate der Hupe und eine Reihe übler Prozesse. Hutchinson bestand darauf, dass nur seine Hupe so „rau, lärmend und teuflisch“ klingen dürfe. Die Anwälte der Gegenseite meinten hingegen, dass ein Geräusch niemals patentiert werden kann.
Die Hupe wurde später die Standard-Hupe in Autos von General Motors. Und irgendjemand soll gesagt haben, dass Miller Reese Hutchinson seine Schrei-Hupe nur erfunden hat, damit er den Leuten später noch mehr Hörapparate verkaufen kann. Manchmal heißt es, dass das der Schriftsteller Markt Twain gesagt haben soll, weil der auch mit Hutchinson befreundet war. Aber belegt ist das nicht.
