Mit dem Cochlea-Implantat (CI) können Menschen, die eigentlich nicht mehr hören können, doch wieder hören. Sogar gehörlos geborene Kinder können mit dem CI in der Welt des Hörens und der Lautsprache aufwachsen. Wie man mit dem CI hört und wie es das Leben der Menschen verändert, habe ich hier schon geschrieben. In Deutschland gibt es die CI-Therapie mit dieser Hörprothese jetzt 40 Jahre. – Anlass, um in diesem Artikel zurückzuschauen.
Erste Ansätze für ein CI: „Gehört haben die alle irgendwie.“
Erste Ansätze für ein Cochlea-Implantat gab es bereits vor fast 70 Jahren: In Frankreich versorgten der Physiker André Djourno und der Ohrenarzt Charles Eyriès 1957 einen tauben Patienten mit einer elektrischen Prothese, die den Hörnerv direkt anregte: „Hoffnung für Gehörlose: die Mauer des ewigen Schweigens ist gebrochen“, titelte damals etwa die Hamburger Morgenpost. Doch vom frühen Experiment bis zur CI-Therapie war es noch weit.
Den nächsten Schritt machte William F. House, der in den USA ab den frühen 1960ern mit der Entwicklung eines Einkanal-CI begann und es auch implantierte: „Sein System war verhältnismäßig primitiv“, so der CI-Pionier Professor Rolf-Dieter Battmer. „Aber er versorgte in kurzer Zeit relativ viele Patienten, sogar Kinder. Gehört haben die alle irgendwie; die Frage war nur, was und wie gut.“
Es gibt erste kleine Erfolge. Und Erfolg war auch für die Finanzierung der Forschung wichtig. Kein Wunder daher, dass die Grenze zwischen tatsächlichem Ergebnis und PR-Story nicht immer klar ist: „Ich war dabei, als eine Mutter mit ihrem Kind beraten wurde“, so der Schweizer CI-Pionier Professor Norbert Dillier über einen damaligen Besuch im House-Institut. „Alle waren enthusiastisch. Man hat sie mit Emotionen überzeugt – für ein System, das aus Sicht des Elektroingenieurs völlig unausgereift war. Eigentlich konnte es nicht funktionieren. Und alles andere war nur PR. Das House Institute wurde ja damals von Walt Disney gesponsert. So hat es manchmal auch getönt – eine Stimmung wie bei Mickey Mouse.“
Internationale CI-Szene: „ein auf die Forschung ausgerichtetes Vorgehen“
1978 gibt es bereits 33 Patienten mit dem extracochleären House-Implantat. Es wird sogar von der Firma 3M als 3M House-Implantat vermarktet, in den 80ern bietet 3M zudem das 3M Vienna Implantat an; gleichfalls eine einkanalige Lösung, die die Wiener CI-Pioniere entwickelt hatten. Die Gruppe forscht damals auch schon an anderen, intracochleären Lösungen: „Mit der einkanaligen intracochleären Lösung der Wiener CI-Forschungsgruppe konnten manche Patienten ein offenes Sprachverständnis erreichen, was für viele Forscher eine Überraschung war“, berichtet etwa der Ingenieur Dr. Ernst von Wallenberg.
Überhaupt waren die 1970er und 1980er Jahre die hohe Zeit der CI-Pioniere: Amerika, Frankreich, Österreich, Schweiz, Australien… – überall entstanden Zentren: „Solche CI-Zentren waren kleine Forschungsabteilungen, die Kliniken angeschlossen waren“, so Professor Thomas Lenarz. „Die Teams bestanden meist aus einem Ohrchirurgen und einem Ingenieur, also aus zwei Personen, vielleicht auch mal drei. Diese entwickelten – zum Beispiel mit Mitteln eines Universitätsinstituts – eigene Cochlea-Implantat-Systeme und setzten diese bei wenigen Patienten ein. Dann wurden mit den Patienten verschiedene Dinge erprobt und dabei grundlegende Entdeckungen gemacht. Es war also ein auf die Forschung ausgerichtetes, nicht kommerzielles Vorgehen.“
Diese Forschergruppen stehen in Kontakt. Man trifft sich, tauscht sich aus – in einer Art „CI-Szene“. Und man teilt die Herausforderungen: Wie muss das CI gebaut sein? Wo platziert man die Elektroden? Wie kann die Übertragung durch die Kopfhaut erfolgen? Wie bekommt man Implantatgehäuse langfristig dicht? …
CI-Pioniere in Deutschland und der berüchtigte Hautstecker
Und in Deutschland? Hier unternehmen Anfang der 1960er-Jahre Professor Dr. Fritz Zöllnerund Professor Dr. Wolf-Dieter Keidel einfache Versuche zur elektrischen Stimulation des Innenohres; 1963 veröffentlichen sie Vorschläge zur Verwirklichung eines sprachvermittelnden mehrkanaligen Implantats. Sie bauen dieses Implantat nie. Sie beschreiben jedoch jene Lösung, die der CI-Pionier Professor Ernst Lehnhardt Jahre später suchen und schließlich (sehr ähnlich) in Australien finden wird.
Zuvor erwägt Professor Lehnhardt, dieses Implantat selbst zu bauen. In Hannover bildet er mit drei weiteren Professoren eine kleine, interdisziplinäre Gruppe, die den Bau eines Mehrkanal-Cochlea-Implantats diskutiert. Doch laut Professor Battmer, dem Ingenieur an der Seite Ernst Lehnhardts, kam man dabei nicht sehr weit. Und die gesuchte Lösung schien es nirgends zu geben; auch nicht in Wien, wohin Professor Lehnhardt seinen Ingenieur Anfang der 80er Jahre auf Erkundungstour schickte.
Abgesehen von vereinzelten Versuchen, die es in Deutschland hier und dort mit einkanaligen, extracochleären Implantaten (wie denen von 3M) gegeben hat, stand in den späten 70er und frühen 80er Jahren hierzulande vor allem ein Name für das CI: Im Marien-Hospital in Düren implantiert Professor Paul Banfai zahlreichen Patienten ein extracochläres Einkanal-Implantat, sogar Kindern. Auch hierzu finden sich euphorische Medienberichte von damals. Doch nachweisbaren Erfolg hatten die Behandlungen nie. Statt experimenteller Medizin und akribischer Forschung wurde eine unausgereifte Lösung in die Therapie überführt. Was in Düren mit vollmundigen Versprechen begann, endete schlimm für die Patienten und erweist dem CI noch heute einen Bärendienst: Sein Image in der Gehörlosengemeinschaft wurde nachhaltig geschädigt; Banfais berüchtigter Hautstecker lebt noch heute in der Gebärde für „Cochlea-Implantat“ fort.
Ein legendärer Koffer und ein Flug nach Australien: „bezahlen wollte das niemand“
Mit der Erfolgsgeschichte von 40 Jahren CI-Therapie hatte das, was damals in Düren geschah, nichts zu tun. Ein entscheidender Beitrag befand sich hingegen in einem Koffer, der an einem Tag des Jahres 1983 von einem Herrn namens Michael S. Hirshorn in die HNO-Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover getragen wurde: „Lehnhardt wollte Vertreter grundsätzlich nicht empfangen, also schickte er ihn zu mir“, so Professor Battmer. „Hirshorn war sehr versiert, interessanterweise war er auch Mediziner. Und was er mir zeigte, entsprach dem, wonach wir gesucht hatten: mehrkanalig, eine Übertragung durch die Haut, also ohne Stecker. Und ein Sprachprozessor, der sich bereits am Computer anpassen ließ.“
Das Nucleus-Cochlea-Implantat (aus dem Koffer) war eine Weiterentwicklung jenes intracochleären Mehrkanal-CI, mit dem der australische CI-Pionier Graeme Clark 1978 erstmals einem spät ertaubten Patienten offenes Sprachverstehen ermöglicht hatte. Nach einem grundsätzlich positiven Urteil seines Ingenieurs holte Professor Lehnhardt ein zusätzliches Urteil ein. Er ließ sich das CI vom Nucleus-Chefkonstrukteur David Money präsentieren und flog schließlich mit Rolf-Dieter Battmer nach Australien, um sich alles vor Ort anzusehen.
„Das nahmen wir im Februar 84 in Angriff“, so Professor Battmer. „Bezahlen wollte es niemand, also hat Lehnhardt uns beide finanziert. Wir waren erst in Sydney, wo der Kern von Cochlear saß. Die Firma selbst gab es ja noch gar nicht. Es gab Telectronics, einen Hersteller für Herzschrittmacher. Zum Team, aus dem später Cochlear wurde, zählten neun oder zehn Personen. Wir haben uns die Firma angesehen, um ein Gefühl zu bekommen. Nicht, dass man was kauft, und am nächsten Tag sind sie pleite. Schließlich hätte zuvor keiner von uns damit gerechnet, dass eine solche Lösung ausgerechnet in Australien existieren könnte.“
Der Beginn der CI-Therapie – Operation, Technik und Nachsorge
Bereits auf dem Heimflug soll Professor Lehnhardt entschlossen gewesen sein, die CI-Therapie mit dem australischen Implantat zu beginnen. Und weil er nicht nur ein hervorragender Arzt sondern auch ein exzellenter Organisator war, fand er Mittel und Wege, um noch im gleichen Jahr an der MHH die ersten vier Implantationen an spätertaubten Erwachsenen vorzunehmen – mit teils beeindruckend positivem Ergebnis.
Vor 40 Jahren, im Sommer 1984 hatte das CI das Stadium des Experiments verlassen und es begann: die Therapie. Entscheidend für diesen Startschuss in Deutschland war jedoch nicht nur das passende Implantat. Ebenso wichtig war, wie unter Professor Lehnhardt die CI-Therapie für Erwachsene und bald darauf auch für Kinder als ein Ganzes etabliert wurde – als interdisziplinäres Zusammenspiel von Ärzten und Audiologen, Pädagogen und Therapeuten, zudem wesentlich unterstützt von den Patienten, also der Selbsthilfe. Auch die Gründung der Deutschen CI-Gesellschaft (DCIG) und die Fachzeitschrift „Schnecke“ gehen auf Professor Lehnhardt zurück.
„Was uns in Hannover von den Konzepten in den anderen europäischen Ländern unterschied, war die Einführung einer alltagstauglichen Prothese in dieses klinische Setting. – Also nicht allein Operation, sondern auch Technik und Nachsorge“, so Professor Roland Laszig, der vor 40 Jahren als junger Assistenzarzt bei Professor Lehnhardt begann und dann mit ihm gemeinsam ganz entscheidend zur Verbreitung der CI-Therapie in Deutschland, Europa und der ganzen Welt beitrug.
PS 1: Die Fotos zum Artikel über 40 Jahre CI-Therapie in Deutschland zeigen Joseph Klibanskys Bronze-Skulptur „The Thinker“ – ein Astronaut, der in der Pose von Auguste Rodins „Denker“ auf dem Rembrandtplein in Amsterdam sitzt. – „Wir sagten uns, wir machen so eine Art Mondlandung“, erzählte mit der CI-Pionier Professor Norbert Dillier über die erste CI-Implantation der Züricher CI-Forscher 1977. Das fiel mir wieder ein, als ich den „Thinker“ auf dem Rembrandtplein sitzen sah.
PS 2: Dieser Artikel entstand ursprünglich für die CI-Zeitschrift „Schnecke“ und ich stelle ihn hier noch mal ein, damit ihn auch diejenigen nachlesen können, die keine „Schnecke“-Leser sind. Die „Schnecke“ findest du übrigens hier.
PS 3: Wenn dich die Anfangszeit der CI-Therapie in Deutschland und Europa interessiert, möchte ich dir ein Buch empfehlen, das ich zu 40 Jahren CI-Therapie geschrieben habe: Für „Hör-Pioniere – Wie das Cochlea-Implantat (CI) nach Deutschland kam“ habe ich Zeitzeugen von damals gesprochen. In ausführlichen Interviews berichten Patienten, Ärzte und weitere Gesprächspartner, die die Anfangsjahre und die weitere Entwicklung miterlebt und geprägt haben. Bestellen kannst du das Buch hier. Und hier gibt es weitere Informationen.
Martin Schaarschmidt: Hör-Pioniere – Wie das Cochlea-Implantat (CI) nach Deutschland kam. Gespräche mit Zeitzeugen, Taschenbuch: 464 Seiten, ISBN: 978-3-9820996-3-7; ein e-Book ist ebenfalls erhältlich.