Vorurteile gegenüber Hörgeräten? – Mitunter treffe ich Leute, die sagen, dass das mit den Vorurteilen bei Hörgeräten doch Unsinn ist, weil die Geräte heute toll sind – insbesondere, wenn man sie braucht. Das stimmt natürlich. Und ich habe hier auch schon darüber geblogt.
Es ändert aber nichts daran, dass es immer noch Leute gibt, die diese Vorurteile mit sich rum schleppen. Darunter auch solche Leute, die ein Hörproblem haben, die ganz klar von moderner Hörtechnik profitieren könnten, die aber gar nicht so weit kommen, sie einfach mal auszuprobieren.
Vorurteile – nicht grundsätzlich verkehrt
An sich sind Vorurteile ja längst nicht so schlecht wie ihr Ruf. Sie bedeuten eigentlich nur, dass ich etwas, was ich nicht kenne, mit dem abgleiche, was ich schon kenne, was ich weiß bzw. irgendwann mal gelernt habe. Das heißt, ich nehme so ein mir unbekanntes Ding – also zum Beispiel ein Outfit, eine Berufsgruppe, einen Menschen, eine Gruppe von Menschen, ein Land und dessen Bewohner oder eben Hörgeräte – und packe das Ding dann in etwas, was Ordnung in meinem Kopf schafft – also in eine Tüte, in ein Kästchen oder in eine Schublade. Das hilft mir, unbekannte Dinge zu ordnen und die Welt bis zum Horizont zu verstehen.
Im Prinzip hat jeder ständig Vorurteile, mit denen er die Welt um sich her ordnet und sich in ihr orientiert. Früher, als ich noch Kommunikationstrainings gemacht habe, habe ich das den Teilnehmer*innen immer mit Hilfe eines Baseballschlägers erklärt:
Baseball ist eine Sportart, die in einigen Ländern sehr populär ist. Man braucht dazu u. a. diesen Schläger. Wenn du nachts durch eine verlassene Straße läufst, und dir ein paar Typen mit Baseballschlägern entgegenkommen, dann wäre es natürlich denkbar, dass sie auf dem Weg zum örtlichen Baseballplatz sind. Gut, es ist Nacht, und auf dem Platz könnte es für so ein Baseballspiel ein bisschen dunkel sein. Aber was weißt du schon über Baseball?! – Neulich habe ich was von Glowgolf gehört. Das ist Minigolf in einer dunklen Halle und mit Leuchtbällen. Es kann sein, dass es inzwischen auch Glowbaseball gibt, und dass man das dann nur nachts spielt…
Aber wie wahrscheinlich ist das? Passt das in eins deiner Hirnkästchen rein? Oder nimmst du lieber doch ein anderes: Vorurteil – und dazu gleich noch deine Beine in die Hand?
Das Problem: nur noch Kästchen im Kopf…
Ich denke, nicht die Vorurteile sind das Problem. Die können mitunter ganz nützlich sein. Ein Problem ist eher, wenn man vor lauter Vorurteilskästchen die eigentliche Welt aus den Augen verliert. Und wenn man nicht hin und wieder mal prüft, ob das alles noch so stimmt, wie es im Kopf sitzt.
Also; auf einem Blog, in dem es darum geht, smart und gelassen mit und ohne Technik zu hören, will ich Vorurteile gegenüber Hörgeräten nicht einfach außen vor lassen. Sondern ich stelle sie hier mal zusammen. – Und ich schreibe gleich dazu, warum sie eben nicht mehr sind als haltlose Vorurteile:
1. Vorurteil: „Hörgeräte sind große, fleischfarbene Bananen.“
Dazu hatte ich schon was im Beitrag über den Fluch der Fleischbanane geschrieben. Es gibt scheinbar nach wie vor Leute, die beim Wort „Hörgerät“ zuerst an diese großen, beigefarbenen Dinger aus Omas Zeiten denken. Vor Jahren soll es noch einige, weniger Hörakustiker*innen gegeben haben, die so ein Teil auf den Tresen packten, wenn ein Kunde ein „Kassen-Gerät“ haben wollte – sozusagen als Abschreckung. Doch seit der deutlichen Erhöhung der Kassenzuzahlung bekommt man auch ohne Eigenanteil überall solide und schicke Geräte.
Grundsätzlich sind Hörgeräte heute klein und diskret. Sie sitzen bequem im oder hinter dem Ohr, wo sie von anderen kaum bemerkt werden. Laien können die Hörtechnik meist nicht mehr von kleinen Funkkopfhörern unterscheiden – auch, weil die Hörgeräte zugleich als Kopfhörer genutzt werden können. Und es gibt Geräte in unterschiedlichsten Farben, auf Wunsch auch noch in Beige. (Neulich hat mir ein Hörakustiker verraten, dass es immer wieder mal jemanden gibt, der beige nimmt, „weil man das nicht so sieht“. Er meinte jedoch, dass genau das Gegenteil der Fall sei. „Fleischfarben“ fiele am meisten auf. Es gibt eben auch keine fleischfarbenen Funkkopfhörer…)
2. Vorurteil: „Hörgeräte pfeifen ständig.“
Hier fällt mir Gisela ein; eine sehr sympathische und lebenslustige alte Dame, leider mit ständig pfeifenden Hörgeräten. Das war aber in den 90ern. In den 90ern hatten wir fürs Internet piepsende Modems, als Datenträger die Floppy-Disc, und wer schon ein Funktelefon hatte, sah damit aus wie ein Funker… – Soll heißen: Nein, Hörgeräte von heute pfeifen nicht bzw. nur in sehr speziellen Konstellationen. Sogar Geräte ohne Zuzahlung müssen ein so genanntes Rückkopplungsmanagement haben. Die Technik verhindert das Pfeifen, bevor es überhaupt entstehen kann.
Damit das so ist (bzw. bleibt), ist es jedoch wichtig, dass das Hörgerät von einem Hörakustiker richtig angepasst wird, dass es gut am bzw. im Ohr sitzt und regelmäßig gereinigt und gewartet wird.
3. Vorurteil: „Mit Hörgeräten hört man beim Fernsehen schlecht.“
Tatsächlich stimmt es, dass das Verstehen vor dem Fernseher eine besondere Herausforderung ist. Der zu laute Fernseher ist nicht ohne Grund häufig ein erstes Anzeichen für Hörprobleme. Und auch mit Hörgeräten kann es vor dem Fernseher mal schwierig werden. Das hängt u. a. mit der besonderen Mischung aus Sprache, Musik und Geräuschen zusammen, mitunter auch mit dem mäßigen Sound von Flachbild-TVs. Wenn ich Hörgeräte-Träger frage, wo Grenzen ihres Sprachverstehens sind, dann kommt als Antwort zum Beispiel: „Tatort“ mit Till Schweiger…
Haltbar ist das Vorurteil dennoch nicht. Denn für spezielle Anforderungen wie TV gibt es Zubehör, das man ohne Kabel mit den Hörgeräten koppeln kann. Der Ton wird dann in sehr guter Stereo-Qualität direkt in die Hörgeräte gesendet. Die zeitliche Verzögerung ist so minimal, dass man sie nicht wahrnimmt. Man kann entweder völlig entspannt nur den TV-Ton (oder auch Musik usw.) empfangen, oder zugleich noch die Umgebung hören.
4. Vorurteil: „In lauter Umgebung helfen Hörgeräte nicht.“
Wenn es um die Leistung von Hörtechnik geht, dann ist das Hören in lauter Umgebung sozusagen die Königsdisziplin. Ein voll intaktes Gehör ist in der Lage, aus einer Fülle von Stimmen genau diejenige herauszufiltern, die interessiert. Das ist der sogenannte „Cocktail-Party-Effekt“. Und wenn man ein Hörproblem hat und keine Technik benutzt, dann geht genau dieser Effekt überhaupt nicht mehr. Alles ist nur noch laut, ein einziger Brei.
Spitzen-Hörtechnik bildet die Fähigkeit zum Heraushören von Stimmen so gut wie möglich nach. Wobei man sagen muss: Auch Menschen mit gutem Gehör sind hier nicht perfekt und geraten in lauten Umgebungen an Grenzen. Von Hörgeräte-Träger*innen bekomme ich häufiger sogar erzählt, dass sie sich in lauten Umgebungen dank ihrer Technik besser verständigen können als andere ohne Hörverlust. Ich habe sowas sogar schon von CI-Träger*innen erzählt bekommen – also von Menschen, die eigentlich mehr oder weniger taub sind.
Also; dieses Vorurteil ist nicht haltbar. Auch wenn zukünftige Technik sicherlich immer noch mehr kann – schon die aktuelle Technik lässt sich exakt auf die jeweilige Situation einstellen, in der sich ein Hörgeräteträger befindet. Bei smarten Hörgeräten kann man per Handy-App noch zusätzlich optimieren. Außerdem gibt es Zubehör für extrem laute Situationen, mit dem man einen Sprecher im Party-Gewimmel über zehn, 20 und mehr Meter problemlos verstehen kann. So was geht nur mit Technik.
5. Vorurteil: „Gute Hörgeräte sind enorm teuer.“
Ganz ehrlich: Das ist völliger Blödsinn! Es gibt nicht so viele Länder auf der Welt, in denen sich jeder moderne, gut eingestellte Hörgeräte leisten kann. Und das betrifft keinesfalls nur arme Länder, sondern z. B. auch die USA.
Der Frage, wie teuer gute Hörgeräte sind, werde ich mich sicherlich noch in einem extra Beitrag widmen. Sagen kann ich aber schon jetzt: Gutes Hören muss definitiv nicht mehr teuer sein. Das ist spätestens so, seit die Krankenkassen vor einigen Jahren ihre Zuzahlungen deutlich erhöht haben. Seitdem erhält nämlich jeder gesetzlich Versicherte bereits zum Kassensatz eine moderne und sehr solide Hörgeräte-Versorgung mit klar festgelegten Technik-Funktionen. Die Einstellung durch den Hörakustiker sowie die Nachsorge sind da bereits mit abgedeckt. Und auch zusätzlicher Komfort – etwa eine direkte Kopplung mit dem Fernseher oder mit dem Handy – sind schon für sehr moderate Zuzahlungen machbar.
6. Vorurteil: „Hörgeräte lassen einen alt und behindert aussehen.“
Was ist alt? Und was ist behindert? Erscheint man anderen als alt, weil man ein Hörgerät trägt – oder weil man komische Sachen antwortet, ständig nachfragen muss und doch immer auf dem Schlauch steht? Und ist man in seinem Alltag behindert, weil einem all das ständig widerfährt – oder weil man hinterm Ohr kleine Teilchen trägt, die kaum jemand sieht, geschweige denn beachtet? Und warum ist überhaupt wichtig, was andere denken könnten, wenn es darum geht, das Beste aus den eigenen Möglichkeiten zu machen?
Man wird nicht jünger. Und damit lassen auch Fähigkeiten nach. Ich denke, es ist gut, das zu akzeptieren – möglichst smart und gelassen. Denn man ist definitiv jünger und leistungsfähiger, wenn man hört und versteht. Und wenn man sich nicht selbst im Weg steht.
Ich muss an eine junge Frau denken, Anfang 20, Psychologie-Studentin, CI-Trägerin – also eigentlich nahezu taub. Im Interview meinte sie zu mir: „Wenn ich von mir sage, dass ich behindert bin, dann meine ich damit immer nur, dass ich behindert werde.“ – Ist doch irgendwo ganz schön blöd, wenn man selbst derjenige ist, von dem man behindert wird!
PS: Im Beitrag geht es zwar um Vorurteile gegenüber Hörgeräten, aber auch diesmal gibt es keine Bilder von Hörgeräten. Dafür habe ich ein paar verschlossene Türen und Fenster zusammengestellt, weil die ja irgendwie ganz gut zum Thema Vorurteil passen. Zu sehen sind eine alte Tür mit Türklopfer und eine alte Tür mit Hörgräte. Außerdem ein verschlossener Schuppen und ein verschlossener Kaffee-Garten in Königstein in der sächsischen Schweiz, die verschlossene Tür eines früheren Kulturhauses in Ahlbeck, ein verschlossenes Fenster im Berliner Scheunenviertel (noch mit Einschusslöchern vom Krieg) und ein verschlossenes Tor in einem kleinen Ort auf der Insel La Palma.