Hörst du gerne Glockengeläut? – Vermutlich schwer vorstellbar: Aber früher, als die Welt noch nicht voll war mit allen möglichen Geräuschen, mit dem Rauschen der Verkehrsströme, der Musik, die man jederzeit abrufen kann, den völlig sinnfreien Schallwellen von Kühlschränken, Schaltkästen, Staubsaugern, Laubbläsern, Lüftungen und allen sonstigen uns umgebenden elektronischen Geräten und Anlagen… – damals also hatte jedes Geräusch eine Bedeutung. Ein Vogelgesang, eine Postkutsche mit Signalhorn, aufziehender Wind, der durch Blätter streift – es gab keine bedeutungslosen Geräusche, mit denen man nichts anderes anfangen konnte, als zu versuchen, sie möglichst nicht zu beachten. Ganz im Gegenteil. Bestimmte Geräusche konnten für alle und jeden extrem bedeutungsvoll sein.
Glockengeläut und Kriegslärm
So ein bedeutendes Geräusch war in christlichen Ländern das Geläut von Kirchenglocken. Auch das kann man sich vermutlich kaum noch vorstellen: Vor der Industrialisierung zählte Glockengeläut neben Kriegslärm zu den größten Schallpegeln, die Menschen selbst erzeugt haben. Und Glocken waren nicht einfach irgend so ein Bim-Bam. Sie spielten vielmehr eine sozusagen tragende Rolle für die Gemeinschaft.
Die ersten Glocken soll es in Europa spätestens ab dem 8. Jahrhundert gegeben haben. Ihr Läuten waren damals natürlich viel besser zu hören als heute. Es musste mit weit weniger Geräuschen konkurrieren. Und Kirchtürme überragten alle anderen Gebäude. Es gab also keine hohen Bauten, die die Ausbreitung der Schallwellen von Glockengeläut frühzeitig gestört hätten.
Geläut als gemeinsamer Klangraum
Der Glockenklang war viel mächtiger. Ein einzigartiges Klangerlebnis, das vom Kirchturm der Gemeinde ausging – ungefähr so einzigartig wie das Spiel der Orgel innerhalb der Kirche. Denn so etwas bekam man sonst nirgendwo zu hören.
Das Läuten der Kirchenglocken war über den Ort hinaus hörbar und schuf eine Art Klangraum. Man befand sich sozusagen innerhalb einer „Klang-Gemeinschaft“, wenn man die Glocken der Gemeinde noch hörte. Vermutlich gab das oft ein Gefühl der Sicherheit. Man hatte sich nicht zu weit vom vertrauten Ort entfernt bzw. fand zu diesem zurück. Und natürlich war man zugleich in Verbindung mit seinem Gott, der sich sozusagen regelmäßig als Glockenklang meldete. An den glaubte man. Und der gab mit seinem Läuten vielleicht auch Halt und Schutz; er hielt böse Dinge von der Gemeinde fern. (Gespenster z. B. sollen Glockenläuten nicht mögen. Deshalb kommen sie auch nur nach dem zwölften Glockenschlag raus – für eine Stunde und bis zum ersten Schlag des neuen Tages.)
Auch das mit Gott und den Glocken kann man sich wohl nicht mehr so richtig vorstellen, insbesondere wenn man nicht gläubig ist. (Ich bin im Osten von Berlin aufgewachsen, also in einer – im wahrsten Sinne – ziemlich gottlosen Gegend; das Vorstellen fällt mir daher besonders schwer.)
Glockengeläut und Grenzen
Der Klang der Glocke markierte ein Stück Landschaft. Wenn du die Glocken gehört hast, warst du innerhalb des Raumes, in dem deine christliche Gemeinschaft zu Hause war. Hast du sie nicht mehr gehört, dann warst du draußen – also in der Fremde, der Wildnis, wo man nie sicher sein kann, was einem alles so passiert, weil sich dort vielleicht „gottloses Volk“ rum trieb. Oder du kamst bis zum nächsten Ort, wo es wieder Geläut gab. Dann wusstest du, dass du dein Ziel bald erreicht hast.
Der Glockenklang stand somit für eine Ordnung, für deren Werte, für etwas wie „Zivilisation“. Wenn Missionare loszogen, um anderen christlichen Glauben (wie zivilisiert auch immer…) zu vermitteln, dann wurde – sobald die Mission erfolgreich war – eine Kirche mit Glocke gebaut. Damit war aus „gottloser Wildnis“ eine neue christliche Gemeinde entstanden. Wer die Glocke hörte, war Teil dieser neuen Ordnung – ganz egal, wie er das persönlich fand. Zumindest hörend konnte man der Ordnung nur entkommen, wenn man sich der akustischen Reichweite der Glocke entzog.
„Akustischer Kalender“ und Uhr
Und die Glocke hatte noch weitere Funktionen. Der Komponist und Hörforscher R. Murray Schaffer nennt sie einen „akustischen Kalender“, weil sie damals Feste, Geburten, Todesfälle, Hochzeiten, Brände und Aufstände ankündigte. Das Geläut führte die Leute nicht nur durch den Tag, sondern auch durch „des Lebens wechselvolles Spiel“ (wie das Friedrich Schiller in seinem Glocken-Gedicht dichtete). Die Glocke war zugleich eine wichtige Signalanlage für verschiedenste Anlässe.
Noch perfekter wurde die Sache mit der Glocke ab dem 14. Jahrhundert durch eine weitere Erfindung: die mechanische Uhr. Die hat man nämlich bald darauf mit dem Spiel der Glocken gekoppelt. Und von da an stand der Glockenklang noch viel mehr für die (dann noch viel genauere) Zeit, die ebenfalls alle mit einander verband – und die für alle auf gleiche Weise verging.
Vom Hören der Zeit
Alle Uhren, die man vorher kannte – Sonnen-, Wasser- oder Sanduhren – waren still. Man musste sie anschauen, wenn man wissen wollte, wie spät es ist. Doch ab dem 14. Jahrhundert schlug es mit einem Mal für alle elf oder zwölf (oder 13 – was dann natürlich nichts mehr mit Ordnung zu tun hatte). Man konnte sich auf Schlag soundso verabreden. Man konnte viel pünktlicher sein – unabhängig davon, ob im Haus noch eine Wanduhr tickte oder man sogar eine Taschenuhr besaß. Zudem: auch Wand- oder Taschenuhren musste man sehen, um zu wissen, wie spät es ist. Als Glockenklang jedoch war die Zeit immer und überall.
Geläut und Vergänglichkeit
Man hörte fortan immer, wie die Zeit– und damit auch die eigene Lebenszeit – verging. Was das damals bedeutete, ist wohl ebenfalls schwer vorstellbar für uns, die wir darauf trainiert sind, ständig und überall mit der Zeit zu leben bzw. zu gehen.
Manche klugen Köpfe meinen, dass diese Verbindung aus mechanischer Uhr und Glocke den Menschen in Europa – und insbesondere in Deutschland – zu einer besonderen Einsicht in die eigene Vergänglichkeit verholfen hätte. Ob das stimmt und ob das gut oder schlecht war, sei mal dahingestellt. Sinn macht aus meiner Sicht auf jeden Fall, so lange gut zu hören, wie man es zu Lebzeiten kann – ob nun mit oder ohne Technik. In diesem Sinne noch mal Schiller: „Und wie der Klang im Ohr vergehet, / Der mächtig tönend ihr entschallt, /So lehre sie, daß nichts bestehet, / Daß alles Irdische verhallt.“
PS 1: Für den Artikel zum Glockengeläut habe ich mal wieder in R. Murray Schafers „Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens“ nachgelesen. Ein großartiges Buch!
PS 2: Die Bilder unseres Beitrags über das Geläut hören zeigen Glocken aus dem Glockenmuseum in Herrenberg, eine Glocke in Glockengussform aus dem Deutschen Museum München, eine Glocke aus Wernsdorf bei Berlin, eine alte Sonnenuhr und ein Uhrwerk im Turm der Westerkerk in Amsterdam.