„Weil das Leben als Hörgeschädigter ein tolles Leben ist.“

Über meine letzte Begegnung mit dem Audiotherapeuten Peter Dieler
Illustration zu einem Artikel über Peter Dieler auf die-hörgräte.de

Die Sommerpause hier auf dem Blog war sehr lang. So viel Urlaub hatte ich gar nicht. Ich war zehn Tage mit dem Rad unterwegs und dann beim Deaf Ohr Alive Jugendcamp der DCIG auf dem Grafenschloss Diez. Fast 50 Jugendliche zwischen 12 und 18, die mit dem Cochlea-Implantat und anderer Hörtechnik hören. Wir haben eine Woche lang eine Camp-Zeitung gestaltet. Es gab Spiele, Sport, Kreativität, Floßbauen, Lagerfeuer, eine Glitzerparty… Und der Audiotherapeut Peter Dieler hat einen Workshop gemacht. Nach dem Camp kam bald die IFA, auf der ich Journalisten eine Woche lang von neuesten Hörgeräten erzählt habe. Danach sollte endlich der Blog weitergehen, der neue Artikel lag bereit. Und dann kam die Nachricht: Peter Dieler ist tot.

Dass Peter Dieler nicht mehr da sein soll, kann ich immer noch schwer fassen, weil wir uns gerade erst im Camp getroffen hatten. Wir sind uns immer mal begegnet – bei Veranstaltungen… Man verabschiedet sich mit: „bis bald, irgendwo“, weil man sich doch wieder über den Weg läuft. Nun wird es das nie mehr geben; und das ist sehr traurig.

„Ein verdammt guter Schwerhöriger werden“

Peter Dieler war Audiotherapeut in einer Rehaklinik. Und er hat sich 30 Jahre lang um schwerhörige Menschen gekümmert, hat Patienten der Klinik betreut, hat sich in der Selbsthilfe engagiert und ist überall hingefahren, hat Workshops angeboten, Vorträge gehalten… Er war bei vielen, die mit Schwerhörigkeit leben, sehr beliebt, hochgeschätzt, verehrt. Vielleicht ein bisschen wie ein Star, eine Art Guru, ein Lehrmeister, Heilsbringer… Aber keine dieser Bezeichnungen wird Peter Dieler wirklich gerecht.

Audiotherapeuten sorgen dafür, dass Menschen, die schlecht hören, im Alltag möglichst gut kommunizieren, sich integriert fühlen, aber auch ihre Grenzen akzeptieren. Peter sagte seinen Patienten immer: „Sie sind kein Gut-Hörender, aber Sie können ein verdammt guter Schwerhöriger werden.“

Zur Audiotherapie war Peter Dieler eher zufällig gekommen, als er sich mit seiner eigenen Hörschädigung auseinandersetzte. Als kleines Kind hörte er noch gut. Sein erstes Hörgerät bekam er nach der Einschulung. – „Aber ich habe es nicht getragen, nur in der Hosentasche“, so Peter. Mit 14 trug er die Hörgeräte manchmal, ab 17 regelmäßig. – „Und seit ich 21 bin, weiß ich auch, dass ich schwerhörig bin. Es ist ein Unterschied, ob man Hörgeräte trägt, oder ob man auch weiß, was es bedeutet, schwerhörig zu sein.“

Ein Workshop für junge „Anders-Hörende“

Als wir uns im Jugendcamp begegneten, trug Peter Dieler seit 35 Jahren Hörgeräte. Und er sagte, er freue sich auf das Cochlea-Implantat: „Im Camp finde ich es spannend zu erleben, was passiert, wenn ich mal ein CI habe.“

Das Camp ist nicht irgendein Sommercamp, bei dem sich junge Leute treffen, um gemeinsam was zu erleben. Alle leben mit Hörtechnik; und alle sind eigentlich taub. (Bis auf wenige, die noch ein bisschen hören.) Alle sind „Anders-Hörende“, wie Peter das nannte. Im Camp geht‘s zwar auch um Gemeinschaft und Erlebnisse. Aber es geht auch um entscheidende Fragen, die junge Leute betreffen, wenn sie „Anders-Hörende“ sind: Was beeinflusst meine Kommunikation? Wann kann ich besser oder schlechter verstehen?

Foto von einem Workshop mit Peter Dieler beim DCIG Jugendcamp 2025 in Diez

In Peter Dielers Workshop ging es genau darum. Damit jeder zu Wort kommen konnte, wurde der Workshop anfangs in zwei Gruppen durchgeführt. Es gab runde Moderationskärtchen, auf die jeder Teilnehmer Antworten auf diese Fragen schrieb: „undeutlich reden, zu leise/laut“, „ohne Mundbild verstehe ich schlechter“, „wenn man schnell spricht, verstehe ich es schlecht“, „CI/Hörgerät beim Telefonieren mit dem Handy verbinden“, „schlecht verstehen bei lauter Musik“, „Mikrofon und FM-Anlage“, „100% Aufmerksamkeit der Personen, mit denen ich rede“, „wenn ich nachfrage und andere sagen: Das war nicht so wichtig“, „wenn das Klassenzimmer zu laut ist“, „Anlage in die Mitte des Tisches legen“…

Das Durcheinander der Verantwortlichkeiten

Schließlich war der Fußboden, um den alle im Stuhlkreis saßen, mit einem Durcheinander aus gelben, roten, grünen Karten bedeckt. Und Peter Dieler diskutierte mit den Jugendlichen Antwort für Antwort, um alles in eine Ordnung zu bringen: ein Kartenstapel für das, wofür jeder „Anders-Hörende“ selbst verantwortlich ist; ein Stapel für das, wofür die „Gut-Hörenden“ verantwortlich sind; einer für alles, was mit Technik zu tun hat; einer für das, was mit dem Raum zu tun hat, in dem man verstehen muss…

Ordnung in ein Durcheinander zu bringen, kann helfen, was zu erkennen. In Peter Dielers Workshop schien das Ordnen der Antworten erst gut zu funktionieren, später nicht mehr. Eine Karte mit der Aufschrift „FM-Anlage“ lag zum Beispiel auf dem Stapel für Technik. Dann jedoch meinte Peter: „Aber wer ist verantwortlich, dass die Anlage benutzt wird? Der ‚Anders-Hörende‘? Oder ist das nicht auch der ‚Gut-Hörende‘, der will, dass der ‚Anders-Hörende‘ ihn versteht?“

„Nicht wissen, ob man verstanden hat oder nicht“

Im Workshop wussten alle, dass man das Mikro der FM-Anlage nehmen muss, wenn man was sagen will. Wenn jemand es doch mal vergaß, riefen die anderen gleich: „Mikrofon!“ Es war auch klar, dass immer nur einer spricht. Und dass man alles wiederholt, wenn ein anderer trotz des Mikrofons nicht verstanden hatte.

Illustration zu einem Artikel über Peter Dieler auf die-hörgräte.de

Aber die Karten kamen in keine Ordnung und es blieb ein Durcheinander. Weil Kommunikation und Verstehen niemals nur vom einen oder vom anderen, von der Technik oder vom Raum abhängen. Deshalb bleiben die „Anders-Hörenden“ immer verantwortlich und die „Gut-Hörenden“ auch. Und sie bleiben auch verantwortlich, wenn sie das immer wieder vergessen – also etwa vergessen, das Mikro zu nehmen. Gutes Verstehen gelingt, wenn sich alle immer neu bemühen, auch wenn es nie perfekt wird.

Das hört sich einfach an; es wirklich zu verstehen, ist nicht einfach. In Peter Dielers Workshops konnte man das lernen. Zwischendurch hat Peter Storys erzählt – von sich und Leuten, denen er begegnet war. Und er hat Witze gerissen und Sätze vorgeholt, über die man lange nachdenken kann: „Ein Problem schwerhöriger Menschen ist, dass sie oft nicht wissen, ob sie verstanden haben oder nicht.“ Oder: „Doofe Menschen ändern sich nicht, weil sie nicht wissen, dass sie doof sind.“

„Menschen, die über sich hinausgewachsen sind“

Nach dem Workshop hat mir Peter für die Camp-Zeitung erklärt: „Wir hatten ja erst zwei Gruppen, die sehr unterschiedlich waren. Trotzdem haben beide Gruppen sehr intensiv gearbeitet. Wir haben schöne, aber auch wirklich schwierige Diskussionen geführt. Toll fand ich, wie offen die Gruppen füreinander wurden. Dass alle voneinander profitiert haben. Dass starke Persönlichkeiten dabei waren. Dass Menschen über sich hinausgewachsen sind und über ihre eigene Scham und eigene Stärken geredet haben.“

Und über die Jugendlichen im Camp meinte er: „Das sind total tolle Menschen, die alle eines verbindet: dass sie schlecht hören. Bei allen Unterschieden glaube ich, dass sie eines eint: Das Gefühl, sich in der hörenden Welt erklären zu müssen, an Grenzen zu kommen, Herausforderungen zu finden. Deshalb ist es so wichtig, dass sie sich hier austauschen – viel mehr noch als im Workshop.“

Und Peter Dieler wünschte allen, dass sie bei der Auseinandersetzung mit ihrer Hörschädigung immer nette, unterstützende Menschen an ihrer Seite haben: „Und ich wünsche euch, dass ihr euch nicht schlecht fühlt, nur weil andere euch schlecht behandeln. Und dass euch immer klar ist, dass ihr selbst euren Wert bestimmt, und dass sich dieser Wert nicht durch die Hörschädigung ändert. – Ein Leben als Hörender wirst du nie schaffen; das musst du auch nicht. Weil das Leben als Hörgeschädigter ein tolles Leben ist.“

Porträt von Peter Dieler, aufgenommen beim DCIG Jugendcamp 2025 in Diez

PS: Die Fotos zum Artikel über meine letzte Begegnung mit Peter Dieler entstanden bei seinem Workshop beim DCIG-Jugendcamp am 4. und 5. August 2025 in Diez.


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2 Kommentare. Leave new

  • Franziska Bodmann
    1. Oktober 2025 21:15

    Lieber Herr Schaarschmidt,
    ich habe mich 2024 auf der JHV des CIV NRW schon einmal persönlich bei Ihnen für Ihr “Hörpioniere” bedankt. Genauso nun für diesen Artikel, der Peters Geist, Witz, Wärme, Kompetenz und sprachliche Zielgenauigkeit absolut einfängt und wiedergibt. Mit diesem herzlichen Bild am Ende hilft er mir, mich an seine wertvollsten Aussagen und an das Gefühl zu erinnern, das ich in seiner Nähe immer hatte. Vielen Dank!
    Ich vermisse ihn nun zwar umso mehr, aber bin auch voller Liebe und Dankbarkeit, dass ich diesem Menschen begegnen durfte. Und dass Sie sich an ihn ebenso erinnern wie ich.

    Antworten
    • MSchaarschmidt
      2. Oktober 2025 9:03

      Liebe Franziska Bodmann, vielen Dank für Ihren Kommentar, über den ich mich sehr gefreut habe. Dann erinnern wir uns gemeinsam an ihn. Herzliche Grüße, Martin Schaarschmidt

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