Der fünfte und abschließende Teil der Artikel-Serie über Hören und Nicht-Hören in Wien gehört dem ersten deutschen CI-Kind Tobias Fischer. Er ist längst erwachsen, lebt seit langem in Wien, und wir waren am letzten Tag meiner Reise verabredet – im Café Sacher, gleich hinter der Staatsoper. Fast jeder Tourist, der nach Wien kommt, möchte einmal im Café Sacher sitzen und Sacher-Torte verputzen. Aber wenn man sich dort früh genug verabredet, sind die Touristen noch gar nicht da…
Was ein Cochlea-Implantat (CI) ist und wie man mit ihm hört, darüber habe ich hier schon häufiger geschrieben. Ich arbeite gerade an einem größeren Projekt über die Anfänge der CI-Versorgung in Deutschland und führe Interviews mit zahlreichen Zeitzeugen, zu denen auch Tobias Fischer gehört. 1988 war er das erste Kind aus Deutschland (und Europa), das ein CI bekam.
Eine stille Hörspielkassette
Weil ich weiß, dass es mit CI schwierig sein kann, in einem gut besuchten Café zu verstehen, bitte ich um einen Tisch in einer Ecke. Den Ort für das Interview hat Tobias Fischer ausgewählt, der wenig später zusammen mit seiner Frau Sonja kommt. Beide sind öfter und gerne im Café Sacher. Und mit der Akustik sei das schon ok, sagt er.
Tobias Fischer war vier, als er ein CI-Kind wurde. Vieles aus dieser Zeit weiß er nur aus den Erzählungen seiner Eltern. Mit drei erkrankte er an Meningitis (bzw. Hirnhautentzündung). Er musste mehrere Wochen ins Krankenhaus. Dass er durch die Krankheit sein Gehör verloren hatte, fiel den Ärzten erst gar nicht auf. Nur seine Mutter hatte bemerkt, dass etwas nicht stimmte, weil der Junge ihre Fragen nicht beantwortete. Und als er wieder zu Hause war, war es klar:
„Ich hatte einen Rekorder mit Hörspielkassetten. Und weil ich den nicht mehr hörte, habe ich ihnen gesagt, dass er kaputt ist. Meine Eltern hingegen hörten alles. Ich habe ihnen aber nie gesagt: ‚Ich kann nicht mehr hören.‘ Ich weiß nicht, wie andere Kinder mit dreieinhalb reagiert hätten, wenn ihr Gehör mit einem Mal weg ist.“
Ein Brief an den CI-Professor
Die Diagnostik beim Ohrenarzt bestätigte, dass Tobias Fischer sein Gehör verloren hatte. Der Arzt konnte seinen Eltern keine Hoffnung machen. Er erwähnte aber, dass in Hannover ein Professor Lehnhardt damit begonnen hätte, ertaubte Menschen zu operieren. Mit einem Hörimplantat könnten sie wieder hören und vor allem verstehen. Doch Tobias Fischer – so der Arzt – sei für diese Behandlung wohl noch zu klein.
Dennoch schrieb seine Mutter einen Brief an den CI-Pionier Ernst Lehnhardt. – „Für meine Mutter gab es da wohl keine Alternative. Sie hatten versucht, mir Hörgeräte zu geben, und schnell gemerkt, dass das nichts bringt. Es hieß dann sinngemäß: ‚Jetzt muss er eben Gehörlosen-Förderung bekommen. Machen Sie sich keine große Hoffnung, dass aus dem Kind mal was wird…‘ – Das Cochlea-Implantat war der einzige Ausweg.“
Und die Familie hat Glück. Tatsächlich implantiert Professor Lehnhardt dem Jungen ein Cochlea-Implantat. Tobias Fischer ist das erste Kind aus Deutschland, das eines bekommt – nachdem er etwa neun Monate taub war. Die Lautsprache, die er vor seiner Erkrankung gesprochen hatte, war in den Monaten ohne Gehör wieder verloren gegangen.
Das CI-Kind und der Hubschrauber
Wie es war, nach langer Zeit zum ersten mal wieder zu hören, daran hat Tobias Fischer noch wenige eigene Erinnerungen. Als die Operationsnarbe an seinem Kopf abgeheilt war, wurde sein Sprachprozessor zum ersten Mal eingeschaltet.
„Ich weiß nur, dass ich das Gefühl hatte, einen Hubschrauber zu hören. Ich glaube, das habe ich damals nicht mal gesagt. Beim Einschalten kam so ein Rauschen und dann der Hubschrauber. Wahrscheinlich war das die abgehackte Sprache – die Worte und die Lücken dazwischen…“
Wie man mit dem CI hört, sei schwer zu beschreiben, sagt er: „Es gibt ja Simulationen, die zeigen sollen, wie sich das anhört. Als ich meinen Eltern das vorgespielt habe, waren sie geschockt: ‚So hörst du?‘ Ich meinte: ‚Nein, so höre ich eigentlich nicht. Das stimmt ja gar nicht.‘“
An ein anderes Erlebnis von damals kann sich Tobias Fischer noch gut erinnern. Wahrscheinlich war es sogar der Moment, in dem ihm tatsächlich bewusst wurde, dass er wieder hören kann: „Wir waren auf dem Schützenfest und ein Luftballon ist geplatzt. Ich habe mich so gefreut, das wieder zu hören, dass ich jeden Luftballon platzen ließ.“
Sprechen lernen in der Puppenstube
Um das Hören und vor allem auch Verstehen und Sprechen mit dem Cochlea-Implantat neu zu lernen, sind Rehabilitation und Nachsorge ganz entscheidend. Auch hier gab es damals noch keinerlei Erfahrungen. Der Gehörlosenpädagoge und CI-Pionier Dr. Bodo Bertram hat dann ein Reha-Konzept entwickelt – Basis für die spätere Rehabilitation tausender CI-Kinder.
Das neue Hören wird spielerisch erlernt: „Das fing mit einer Puppenstube an, in der es Puppen und Möbel gab. Es gibt noch Videos von diesen Therapiestunden. Er steht meist hinter mir, damit ich sein Mundbild nicht sehen kann. Dann fängt er an, mit den Puppen zu spielen. Es klingelt an der Tür, eine Puppe kommt ins Haus, will Kaffee trinken oder Tee eingießen… Die Puppen mussten natürlich sprechen, das heißt, wir haben dann für sie gesprochen. Wir haben gemeinsam gespielt. Und ich musste darauf hören, was er hinter mir sagt. In den Videos sieht man, wie gut das funktioniert. Das war schon genial, wie er das gemacht hat.“
Darüber hinaus bekam Tobias Fischer als CI-Kind auch noch jede Menge weitere Förderung, vor allem zu Hause. Später musste er nur noch einmal im Jahr nach Hannover bzw. dann auch nach Friedberg, um seine CI-Technik nachstellen zu lassen.
PS 1: Die Fotos zum Beitrag über das Treffen mit dem einstigen CI-Kind Tobias Fischer zeigen den Tisch vom Café Sacher mit Hörgräte, außerdem Fotos vom Joggen durch das morgendliche Wien, wo mein Interview-Partner seit Jahren lebt. Fotos von Personen gibt es auf dem Hörgräten-Blog höchstens mal, wenn es sich um historische Personen handelt. Wenn du wissen willst, wie Tobias Fischer aussieht, findest du hier ein paar Fotos von ihm.
PS 2: Den zweiten Teil des Interviews mit dem ersten deutschen CI-Kind Tobias Fischer gibt es dann beim nächsten Mal.