Traum von Klangtreue

Über die Vision des natürlichen Hörens mit Technik
Bild auf einer Harfe

Ein Traum von Klangtreue? – Wo stünden wir heute ohne Träume und Visionen? Geträumt haben Menschen schon immer, sich Dinge ausgedacht, bei denen andere nur den Kopf schüttelten, und sich daran gemacht, diese Dinge umzusetzen. Bei vielen solcher Projekte ging es um ein großes Thema: etwas nachzubauen, mindestens so perfekt, wie es die Natur oder Gott oder wer auch immer vorgemacht hat. Der Traum von der Klangtreue ist genauso ein Projekt.

(Populärer ist das Wort „Klangtreue“ als englischer Begriff: High Fidelity oder kurz HiFi. HiFi ist jedoch auch ein definierter Standard in der Tontechnik, um den es hier nicht gehen soll. Hier geht‘s um Träume von Technik.)

Ikarus träumte, wie ein Vogel zu fliegen. Und der- oder diejenige, die das Feuermachen erfunden haben, träumten davon, etwas zu können, was eigentlich nur ein Blitz kann. Sie haben so lange rumprobiert, bis es ging. Gab es keinen Erfolg, behielten die Zweifler Recht und konnten weiter mit dem Kopf schütteln. Aber irgendwann ging‘s doch.

Vom Menschen-Nachbauen

Auch der Traum, einen Menschen und seine natürlichen Fähigkeiten nachzubauen, ist uralt. Menschliche „Ersatzteile“ (bzw. Prothesen) gab es schon im alten Ägypten. Später träumte man vom Homunculus, von einer Automate, vom Maschinen-Menschen, vom Frankenstein-Monster, vom Roboter, vom Cyborg… Heute sind wir bei künstlicher Intelligenz. Vor ca. 250 Jahren stellte der Mechaniker Wolfgang von Kempelen seinen „Schachtürken“ vor, eine Roboter-Puppe mit Turban, die Schach spielen konnte. Der ganze Trick: In der Maschine hatte sich ein kleiner Mensch versteckt. Weil die meisten Leute keine Ahnung von Technik haben, und sich nur dafür interessieren, was ein Ding kann, waren sie sehr beeindruckt. Im Nachhinein wirkt das, was mal Fortschritt war, immer etwas unbeholfen. Es nicht für voll zu nehmen ist aber auch nicht viel anders, als immer nur dem Kopf zu schütteln.

Deckel Phonografen-Walze

Mit dem Traum, einen natürlichen Klang mit Technik nachzubilden, war es ungefähr genauso. Es ist noch nicht so viel Zeit vergangen, seit man Klänge erstmals einfangen, mitnehmen und wieder hören konnte, obwohl sie in der Natur gar nicht mehr da waren. So richtig möglich wurde das mit den Wachswalzen vom Edison-Phonographen (über den ich an anderer Stelle noch schreiben will). Bis ins späte 19. Jahrhundert konnte man Dinge nur dann hören, wenn sie gerade passierten. Musik musste gespielt oder gesungen werden, um sie hören oder nach ihr tanzen zu können.

Spätestens mit der Fähigkeit, Klänge aufzunehmen, entstand auch der Traum von der Klangtreue.

Phonograph und Cello

Professor Dr. Karlheinz Brandenburg ist der Leiter des Fraunhofer-Instituts für Digitale Medientechnologie in Ilmenau. Weltweit bekannt ist er vor allem in Verbindung mit dem Dateiformat MP3, an dessen Entwicklung Brandenburg maßgeblich beteiligt war. Im Interview habe ich mit ihm über den alten Traum von High Fidelity und über die Zukunft der Musikwidergabe gesprochen. Zum Einstieg erzählte er eine Geschichte aus der Zeit der ersten Phonographen:

Royal Opera London

„Um den Menschen zu zeigen, wie großartig diese neue Technologie ist, unternahm man damals Touren von Stadt zu Stadt. Es soll auch eine Vorführung mit einem Phonographen gegeben haben, auf dem ein Cello-Stück aufgezeichnet war. Und es gab einen Cellisten, der dieses Stück ebenfalls spielte. Beide, Phonograph und Cellist, waren während der Präsentation durch einen Vorhang vom Publikum getrennt. Man konnte also nicht sehen, wer von beiden spielte. Und es wird tatsächlich behauptet, die Zuhörer konnten die Wiedergabe durch den Phonographen nicht vom Spiel des Cellisten unterscheiden.“

Ich weiß nicht, ob du schon mal gehört hast, wie so ein Phonograf klingt… (Wenn nicht, kannst du dir hier mal anhören, wie Johannes Brahms Klavier spielt.) – Professor Brandenburg meinte jedenfalls: „Aus heutiger Sicht gibt es für die behauptete Übereinstimmung von Original und Tonkonserve mehrere Deutungsmöglichkeiten. Die eine besagt, die anwesenden Zuhörer waren alle taub. Die zweite wäre, der Vorhang hat so viel vom Schall geschluckt, dass tatsächlich kein Unterschied mehr zu bemerken war. Und eine dritte Deutungsmöglichkeit besagt, der Cellist hätte zuvor lange trainiert, damit sein Spiel so klingt wie der Phonograph.“ – Auf jeden Fall aber zeige die Geschichte eines: „Dass es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Idee gab, aufgezeichnete Musik so klingen zu lassen wie das Original.“

Über Klang-Feinschmecker

Auch die Cello-Vorführung mit dem Phonographen wirkt aus heutiger Sicht unbeholfen. Heute sind wir alle viel weiter. Wir haben natürlich HiFi. Jeder hat sowas. Und wer audiophil – also ein richtiger Klangliebhaber bzw. so eine Art Klang-Feinschmecker – ist, der kann sich für zich tausende Euro natürliche Klänge und Hörerlebnisse nach Hause holen; vorausgesetzt, er hat das nötige Geld.

Und trotzdem –die Technik ist immer noch das eine und die Natur etwas ganz anderes. Auch dazu eine Story aus einem Interview, das ich vor Jahren geführt habe. Und zwar mit einem Klang-Feinschmecker:

Mann mit Triangel am Saitenorchestrion

Er war Anfang 60. Und er hatte einen sehr gut bezahlten Job. Er hatte also das nötige Geld, um seiner Leidenschaft für klanggetreue Hörerlebnisse nachzugehen. Er liebte klassische Musik, ganz besonders beim Autofahren. Er steckte deshalb eine Menge Geld in die Sound-Anlage seines Autos. Und er gehörte zu den Menschen, die alle zwei drei Jahre ein neues Auto kaufen.

Aber es gab da ein Problem. Der Klang-Feinschmecker stellte nämlich fest, dass der Klang seiner Musik-Anlage nicht mehr so toll war, wie früher. Damit wollte er sich nicht abfinden. Als er sein nächstes neues Auto kaufte, kaufte er deshalb eine noch bessere Musik-Anlage. Das verrückte war, deren Klang schien ihm bald noch mieser als bei der vorhergehenden. Und deshalb gab er beim darauffolgenden Auto noch mehr Geld für die Musik-Anlage aus. Und wie du vielleicht schon vermutest: Diese noch teurere Anlage klang noch schlechter…

Vom Hören mit Technik

Eine Erklärung? Schlamperei beim HiFi-Anbieter? Qualitätseinbußen bei Tonkonserven? Schlechte Raumakustik im Auto? – Nichts dergleichen. Die Erklärung war absolut nahe liegend. Nur war sie meinem Gesprächspartner über Jahre nicht in den Sinn gekommen: ein Hörverlust. Als der Klang-Feinschmecker die Hörgeräte hatte, von denen er mir beim Interview erzählte, sah es auch mit HiFi wieder ganz anders aus.

alte Schallplatte aus Blech

Wobei man einschränkend sagen muss: Auch beim Hören mit Technik ist die Technik das eine und die Natur noch etwas anderes. Das natürliche menschliche Hören ist ein komplexes Ding. Wenn von „Wundern der Natur“ die Rede ist, dann sind ja immer Dinge gemeint, die so wunderbar und vollendet sind, dass man nur staunend davorstehen und sie nicht bis zu Ende erklären kann. Mit dem natürlichen Hören ist das so. Und beim Hören mit Technik versucht man, diesem perfekten natürlichen Hören (bzw. dem Traum von Klangtreue) Schritt für Schritt näher zu kommen.

Die Hörgeräte-Industrie gibt jedes Jahr riesige Summen für Forschung und Entwicklung aus. Und die Hörakustiker*innen entwickeln und nutzen Methoden, mit denen man die Technik so einstellt, dass sie dem natürlichen Hören so nah wie möglich kommt. Es wird immer besser. Aber so ganz wird man wohl niemals ankommen. Weil Natur und Technik eben doch zwei Paar Schuhe sind. Und weil sich ein natürliches Gehör (noch) nicht wiederherstellen lässt. Dafür lässt es sich aber mit Technik ausgleichen. Und wenn man nur mal zurückblickt, wie man das vor 1.000 oder 100 oder nur zehn Jahren konnte, dann kann man sicherlich feststellen: Heute klappt es schon richtig gut.

PS: Die Bilder zum Beitrag über den Traum von Klangtreue zeigen: zwei verträumte Gestalten auf einer alten Pedalharfe im Victoria & Albert Museum in London, den Deckel einer Wachswalze für Edison-Phonographen aus dem Berliner Phonographen-Archiv, die Ränge der Royal Opera in London, einen Triangel-Spieler, der zu einem Saiten-Orchestrion im Deutschen Museum in München gehört, und eine Blech-Schallplatte mit der „Abendstern-Polka“ aus dem Musikinstrumenten-Museum in Berlin.


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