Was haben das Sprechen mit Händen und die kleine Meerjungfrau mit einem Blog über das Hören mit und ohne Technik zu tun? Das hätte ich vor ein paar Wochen auch nicht sagen können. Aber dann fand die Hörgräte auf Twitter ein Posting über Arielle – also über den Disney-Film, der das Märchen von Hans Christian Andersen im üblichen Disney-Style erzählt. Das Posting stammte von der Mutter eines hörgeschädigten Mädchens. Das Mädchen hatte den Film gerade gesehen, und sie fand Arielle doof. Doof deshalb, weil sie sich den ganzen Ärger mit ihrem Prinzen hätte sparen können, wenn sie nur ordentlich Gebärdensprache gelernt hätte.
Damit hatte das Mädchen fraglos recht. Wobei die Folgen der Unfähigkeit, sich mit Menschen zu verständigen, im Original-Märchen „Die kleine Meerjungrau“ noch viel dramatischer sind als in dem Disney-Film, in dem am Ende noch alles gut wird.
Sprachlosigkeit ohne Happy End
Jetzt folgt ein kleiner, erläuternder Einschub für all diejenigen Leser, die Märchen nur aus Disney-Filmen kennen: Ihr müsst sehr stark sein! Denn Märchen haben nicht immer ein schönes Ende. Schon gar nicht bei Hans Christian Andersen. Auch bei ihm verliebt sich die kleine Meerjungfrau „unsterblich“ in ihren Menschen-Prinzen. Sie geht zur Meerhexe, lässt sich den Fischschwanz wegmachen und bekommt zwei Beine. Sie kann fortan nur noch bei den Menschen leben, und sie muss dafür auch noch ihre schöne Stimme hergeben:
“‘Aber mich mußt Du auch bezahlen!‘ sagte die Hexe; ‚und es ist nicht wenig, was ich verlange. Du hast die schönste Stimme von Allen hier auf dem Grunde des Meeres; damit glaubtest Du wohl ihn bezaubern zu können; aber diese Stimme mußt Du mir geben. Das Beste, was Du besitzest, will ich für meinen köstlichen Trank haben!”
Hier stimmen Arielle und das Original-Märchen noch mehr oder weniger überein. Aber das Ende des Originals ist ganz anders, eine einzige Katastrophe: Die kleine Meerjungfrau lebt zwar unter den Menschen und ganz nah bei ihrem Prinzen. Doch zugleich ist sie viel weiter von ihm weg, als sie es sich in der Tiefe des Meeres je hätte vorstellen können. Er versteht sie nicht. Sie hat keine Sprache, um ihm zu sagen, wie sie ihn liebt. Und dabei bleibt es. Es gibt keine Lösung. Die kleine Meerjungfrau geht einfach zugrunde: „Noch einmal sah sie mit halbgebrochenen Blicken auf den Prinzen, stürzte sich vom Schiffe in das Meer hinab und fühlte, wie ihr Körper sich in Schaum auflöste.“ Sie stirbt und wird zu einer „Tochter der Luft“. Kein Mensch hat ihre Geschichte erfahren. Sie ist nicht mehr als ein Traumbild, das man im nächsten Moment vergisst.
Die verbotene Sprache
Das ursprüngliche Märchen handelt von unüberwindlicher Sprach- bzw. Kommunikationslosigkeit, von der Einsamkeit, vom Unglücklichsein und -bleiben. Das sind Erfahrungen, wie ich sie ganz ähnlich immer wieder von Menschen beschrieben bekomme, die ihre Hörfähigkeit verloren haben. Sie sind unter Menschen und zugleich einsam. Sie ertragen die Gegenwart anderer kaum noch und ziehen sich zurück. Und sie fühlen sich mitunter so, als wären sie nur noch ein Schatten ihrer selbst – also auch wie eine Art Traumbild oder sogar wie ein Gespenst. Noch auf dieser Welt und irgendwie auch nicht mehr.
Natürlich stimmt die Geschichte bei Andersen hinten und vorne nicht – wie es das hörgeschädigte Mädchen herausgefunden hatte. Man ist nicht stumm, nur weil man keine Lautsprache hat. Jedenfalls ist man dann noch lange nicht sprachlos. Es gibt Körpersprache, anhand derer man andere wahrnehmen kann. Und gehörlose Menschen stumm zu nennen, ist völlig falsch. Das sind eigentlich längst überholte Vorstellungen, gegen die die Gehörlosen jedoch bis heute ankämpfen. Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) zum Beispiel wurde erst 2002 überhaupt als Sprache anerkannt.
In Schwerhörigen- und Gehörlosenschulen war sie zuvor lange Zeit sogar verboten – ungefähr wie eine Art schlechte Angewohnheit. Kinder sollten so gut wie möglich „normal“ scheinen und sprechend – also lautsprachlich und mit dem Absehen des Lippenbildes. Das funktionierte natürlich umso schlechter, je weniger der- oder diejenige selbst mit technischer Hilfe hören konnte. Und als die Technik immer besser wurde, ging man erst recht davon aus, dass die Gebärdensprache unnötig sei, und dass sie Kinder vom „richtigen“ Sprechen abhalten würde. Tatsächlich gibt es heute viele junge, gehörlose Menschen, die von Beginn an z. B. mit Cochlea-Implantaten (CI) aufgewachsen sind, keine Gebärdensprache sprechen und auch niemanden kennen, mit dem sie sie sprechen könnten.
Mit Händen sprechen
Es gibt aber auch die andere Seite. Es gibt hochgradig hörgeschädigte Menschen, denen die Technik allein keine ausreichende Kommunikation ermöglicht – aus welchem Grund auch immer. Es ist heute auch klar, dass es für viele schwerhörige Kinder und Jugendliche in der Schule hilfreich sein kann, neben der Laut- die Gebärdensprache zu nutzen, um noch zuverlässiger zu verstehen. Es gibt Schulen, in denen auch CI-Kinder gebärden lernen. Es gibt Eltern, die sich mit Behörden herumärgern, um ihren hörgeschädigten Kindern das Lernen der Gebärdensprache zu ermöglichen, ggf. auch in Ergänzung zu einer CI- oder Hörgeräte-Versorgung. Andererseits gibt es Behörden, die darauf verweisen, dass das aufgrund der heutigen Technik doch eigentlich gar nicht mehr nötig wäre…
Viele Gehörlose sind stolz auf ihre eigene Sprache, die für sie die schönste Sprache der Welt ist. Und als Brücke zwischen dieser und der Lautsprache gibt es Gebärdendolmetscher*innen, die zwischen beiden Welten vermitteln, und die selbst hörend oder auch nicht hörend sind. Sehr bekannt ist z. B. Laura M. Schwengber, die „mit den Händen tanzt“ bzw. bei den Konzerten von Rock- und Pop-Stars vorne auf der Bühne gebärdet. Sie ist selbst schon so ein bisschen ein Star.
Bei Borussia Dortmund im Stadion gibt es einen Bereich für die hörgeschädigten Fans und eine Gebärdendolmetscherin gebärdet die Stadionansagen. Und es gibt auch junge CI-Träger*innen, die ohne Gebärdensprache aufgewachsen sind und diese Sprache dann später für sich entdecken und sie lernen. Oder die sich vorstellen können, sie irgendwann noch zu lernen.
Gebärden lernen
Ich kann leider nicht gebärden. Abgesehen von ein paar Kleinigkeiten. Ich weiß z. B., wie man „Polizist“ gebärdet und wie man in Gebärdensprache klatscht. Neulich, als ich für einen Pressetermin bei einem Tanzworkshop mit hörgeschädigten Jugendlichen war, habe ich die Gebärde für „Insta-Bitch“ kennengelernt. Ich würde schon gerne gebärden können. Es gibt noch zich andere Sprachen, die ich gerne sprechen können würde. Aber sie zu lernen, scheitert schon an der Zeit – und an der mangelnden Gelegenheit, diese Sprachen auch tatsächlich regelmäßig zu sprechen. Und nur dann macht Sprachelernen ja wirklich Sinn.
PS: Die Fotos zum Artikel über die kleine Meerjungfrau und das Sprechen mit Händen zeigen diverse Darstellungen der Kopenhagener Meerjungfrau. Und im nächsten Beitrag schreibe ich noch ein bisschen weiter über die kleine Meerjungfrau und über das Sprechen mit Händen.