Lärm und Macht? – Nehmen wir einen See, irgendwo im Grünen. Es ist Sommer, ein sonniger Tag, leichter Wind, der durch die Bäume zieht, das glasklare Wasser, hier und da ein paar Enten. Hier und da Leute, die am Ufer sitzen oder schwimmen, den Tag genießen – und die Ruhe. Man hört den Wind, ein paar helle Kinderstimmen, Vögel, sehr weit weg das Rauschen einer Straße, wahrnehmbar nur, wenn man sich sehr darauf konzentriert. Es ist ein bisschen, als wäre man aus der Zeit gefallen. Kein Stress. Kein eiliger Gedanke, der einen davon abhält, sich dem hier voll und ganz zu überlassen.
Motorschlüssel zur Macht
Und genau in diesem Moment passiert‘s. Mit einem Mal ist es da. Dieses eine, alles übertönende Geräusch eines Motorboots, das da draußen über die Wellen jagt, weit weg, und dennoch mächtig, kraftvoll, mit diesem sonoren, röhrenden Sound, der auf und abschwillt, und den jetzt alle hören – hören müssen. Wer an diesem See bleiben will, muss sich das jetzt anhören. Da ist der eine in diesem Boot, der den Schalter umlegt und plötzlich alles beherrscht…
Gut, er beherrscht nicht alles. Es geht hier lediglich um die Welt der Klänge bzw. die unserer Ohren. Dennoch finde ich es spannend, einmal darüber nachzudenken, welcher Zusammenhang eigentlich zwischen Lärm und Macht besteht.
Lärmende Götter und göttlicher Lärm
Das Lärm Macht bedeutet, wussten Menschen schon immer. Die lautesten Geräusche der Welt sind auch heute noch Naturgeräusche. Der größte Knall beim Ausbruch des Vulkans Krakatau im August 1883 soll noch in 4.800 Kilometern Entfernung gehört worden sein (aufgrund der Schallgeschwindigkeit mit bis zu vier Stunden Verzögerung). Und weil Natur nicht einfach Natur war (bzw. ist), sondern von Gott bzw. Göttern gemachte Natur, war auch ihr Lärm nicht einfach natürlich, sondern göttlich.
Ein von Göttern gemachter Lärm ist selbstverständlich allmächtig. Ein Gott ist kein Motorbootfahrer. Niemand wäre auf die Idee gekommen, einem allmächtigen Gott vorzuwerfen, dass er so laut donnert. Wer die macht hat, darf auch laut sein; da kann man nichts machen…
Götter, Mensch und Krach
Irgendwann begannen Menschen, sich die Welt anzueignen. Und die Macht der Götter haben sie sozusagen auch übernommen, zumindest ein gutes Stück. Es wurden Gotteshäuser gebaut, in denen man Gott nahe sein und seine Stimme vernehmen konnte. Glauben und Staat hingen eng zusammen. War man „Gottesmann“ oder König, stand man in der Hierarchie ganz oben und durfte auch entsprechend Krach machen. Die größten von Menschen verursachten Pegel waren lange Zeit das Glockenläuten und der Kriegslärm. Mit der Industrialisierung kamen noch zahlreiche weitere Spielarten hinzu. Und auch die waren sehr lange Zeit für alle ganz selbstverständlich. (Sozusagen: Da kann man nichts machen…) Niemand wäre auf die Idee gekommen, sich über die zu lauten Glocken einer Kirche zu beschweren (solange diese Kirche das Sagen hatte). Und niemand hätte die Industrialisierung gestoppt, weil sie mit erhöhter Lärmbelastung einherging. Auch im frühen 19. Jahrhundert wusste man schon, dass hohe Lärmpegel Folgen haben. (Aber: Da kann man nichts machen…)
„Der Zusammenhang von Lärm und Macht wurde in der menschlichen Vorstellung niemals infrage gestellt“, schreibt der Hörforscher R. Murray Schafer. „Diese Macht ging von Gott auf den Priester über, dann auf die Industriellen und in der jüngeren Vergangenheit auf den Radiomacher oder den Flugzeugführer.“ Er nennt das „den heiligen Lärm“.
Lärm und Autorität
Für richtigen heiligen Lärm – so Schafer – reicht es jedoch nicht aus, einfach nur laut zu sein. Nicht jeder Schreihals ist ein mächtiger Schreihals. Und wer schreit, ist noch lange nicht mächtig: „Heiligen Lärm zu machen bedeutet nicht einfach nur, den lautesten Lärm zu erzeugen; vielmehr geht es darum, über die Autorität zu verfügen, den Lärm unzensiert produzieren zu können.“
Als am Ende des vorletzten Jahrhunderts moderne Großstädte entstanden, und als es schon viele Maschinen, aber noch keine Radios oder Grammophone gab, konnte man Musik nur dann hören, wenn jemand spielte oder sang. Straßenmusik war ein Geschäft, mit dem sich viele Menschen ernährten, die in die großen Städte zogen. Man ging von Haus zu Haus, spielte in den Hinterhöfen und bekam ein paar Münzen. Man war für alle hörbar. Aber ob die Musik nun göttlich oder schauerlich klang – große Autorität hatten Straßenmusikanten nie. Überall gab es Beschwerden. Brave Bürger fühlten sich belästigt, erkannten in Straßenmusik eine Art Grundübel, das es mit Eingaben, Petitionen, wissenschaftlichen Abhandlungen zu bekämpfen galt. – Wieder eine Frage von Lärm und Macht…
Demokratischer Lärm
Heute ist das mit den Autoritäten so eine Sache. Klar lärmen die Mächtigen weiter. Aber schließlich haben wir Demokratie. Jeder hat was zu sagen. Allen gehört ein Stück Macht, oder?! In Bezug auf Krach ist jeder von uns verdammt mächtig – also zumindest im vorgeschriebenen Rahmen bzw. solange, wie alle anderen denken: Da kann man nichts machen.
Du kannst alle deine Nachbarn deinen Laubbläser, deinen Schlagbohrer, deinen Winkelschleifer hören lassen, so oft du magst. Gut, am Sonntag musst du Pause machen, weil das der Tag ist, an dem Gott die Autorität hat oder irgend so was. Aber solange keiner das Ordnungsamt oder die Polizei ruft, kannst du sogar sonntags ordentlich Laub blasen. Und du kannst Party machen. Du bist freundlich, hängst einen Zettel in den Hausflur, und dann verstehen sie alle, dass du Party machst. Oder du lässt es so richtig krachen. Zumindest einmal im Jahr, also an Silvester, darf man es so richtig krachen lassen. Das wird man doch wohl noch dürfen, und da kann keiner was machen…
Der Gott am Steuer
Um auf den Einstieg zurückzukommen: So ein Motorboot ist nur ein Beispiel von vielen. Natürlich stehen Motorboote nicht nur für Lärm, sondern auch für Dinge wie Geschwindigkeit, Spaß, Freiheit. Das sind natürlich schöne Dinge. Und es sind ungefähr die Dinge, mit denen auch Autos beworben werden. Obwohl man zumindest in einer Stadt wie Berlin wohl kaum ein Gefühl von mehr Mobilität, Spaß oder Freiheit hat, wenn man in einem Auto unterwegs ist; eher ein Gefühl permanenter Behinderung und Frustration. Unterm Strich also Lärm und Ohnmacht. Aber das ist schon ein anderes Thema.
PS 1: Die Fotos zum Beitrag über Lärm und Macht zeigen ein Rennboot mit Außenbordmotor von 1936. Es hat einen Sechszylinder-Viertakt-Boxermotor mit Kompressor und steht im Deutschen Museum in München.
PS 2: Das Zitat stammt aus R. Murray Schafers Buch „Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens“, erschienen 2010 in SCHOTT-Musikverlag.