Hast du schon mal erlebt, dass dich bestimmte Geräusche plötzlich an etwas längst Vergangenes erinnern? So sehr, dass du dich mit einem Mal fühlst, als würdest du an einen Ort in der Vergangenheit zurückkehren?
Als Kind war ich im Sommer oft bei meinen Großeltern in einer kleinen Stadt in Thüringen. Damals war es dort sicherlich deutlich stiller als heute, denn es gab zum Beispiel viel weniger Autos – und die waren meistens Trabis mit Zwei-Takt-Motor. Sonst waren die lauten Geräusche andere als in einer Stadt wie Berlin. Man hörte die Kirchenglocken. Es krähten Hähne. Hunde bellten. Der Wind ging durch die Baumkronen. Am Morgen gab es Tauben, die über dem Fenster hockten und gurrten. Oder es ging eine Kreissäge, mit der jemand Brennholz machte.
Wenn ich heute irgendwo hinkomme, wo noch Hähne krähen, Hunde bellen, Glocken schlagen oder eine Kreissäge geht, dann erinnere ich mich. Es ist wie eine Landschaft aus Geräuschen, die für einen Moment auftaucht.
Von Berlin, das nie still ist
In lauten Städten wie Berlin lernt man besonders gut, Geräusche einfach nicht mehr zu beachten. Schließlich gibt es dort immer irgendwelche Geräusche, die völlig egal sind: Autos, Züge, Flugzeuge, Baumaschinen, Rasenmäher, Laubbläser, Musikanlagen, Lüftungsanlagen, irgendwas. Es ist nie still, auch nachts nicht. Es ist zumindest ein Grundrauschen da, von dem ich nicht genau sagen könnte, woraus es sich zusammensetzt – selbst wenn man aufmerksam danach lauscht.
Ich finde es schwer, mir vorzustellen, dass das mit den ständigen Geräuschen irgendwann mal anders gewesen sein muss. Bis vor zwei-, dreihundert Jahren war es anders: Es gab keine Maschinen und keine Elektrizität – damit auch keine Schallwellen, die ständig irgendwo mitlaufen und alle ähnlich klingen. Es lief auch nirgendwo Musik. Die gab es nur, wenn jemand spielte oder sang. Jedes Geräusch ließ sich zuordnen. Jedes hatte eine Bedeutung. Man musste nicht sehen, was vor sich ging. Man konnte es hören.
Ein Klang-Philosoph vor dem „BALZAC COFFEE“
Heute dagegen sind wir die „Großmeister im Nichthören“, wie Sam Auinger sagt. Er ist international renommierter Klangkünstler, Musiker und Klangphilosoph, Komponist, Publizist. Vor einigen Jahren habe ich ihn zum Interview getroffen. Es wurde ein langes Interview. Und schon der Anfang des Treffens war bemerkenswert:
Wir trafen uns Prenzlauer Berg. Und ihm war wichtig, dass wir uns am „BALZAC COFFEE“ in der Schönhauser Allee treffen. Mir war nicht klar, warum es ausgerechnet dort sein musste. Ich fuhr also dorthin. Und als wir uns gefunden hatten, setzten wir uns nicht an einen der Tische dieses Straßencafés, sondern blieben einfach stehen.
Durch die Schönhauser schob dichter Nachmittagsverkehr. An der U-Bahn-Trasse, die hier auf einem Viadukt über der Straße verläuft, wurde gebaut. Maschinen zischten und kreischten; immer wieder ein Presslufthammer. Und an den runden Tischen vor dem „Balzac“ saßen die Leute, tranken ihren Kaffee und schienen sich zu entspannen – inmitten einer Geräuschkulisse, in der ein normales Gespräch kaum möglich gewesen wäre.
„Da setzen sich Menschen direkt an eine stark befahrene Straße, vor eine lärmende Baustelle, und trinken Kaffee“, erklärte mir mein Interview-Partner später, als wir in einem ganz anderen Café Platz genommen hatten. „Sie tun das, um sich zu entspannen. Aber im Prinzip heißt das nichts anderes, als dass sie aufgehört haben, die ästhetische Qualität des Umgebungsklangs in ihr Leben zu integrieren. – Wir sind die Großmeister im Nichthören. Wir haben die Fähigkeit des Gehirns, etwas nicht hören zu müssen, extrem perfektioniert, ohne dass uns die Konsequenzen dessen bewusst sind.“
Klängen die Bedeutung zurückgeben
Beim Treffen sprachen wir u. a. über die Klangkunstprojekte, die Sam Auinger an allen möglichen Orten in Europa, Asien oder Amerika umsetzt. Zentrales Thema ist bei diesen Projekten immer wieder, den Klängen ihre eigentliche Bedeutung zurückzugeben.
Wie das geht, erkläre ich an einem Projekt, das mir ganz besonders gefallen hat. Es hatte den Titel „6er läuten – ein radiostück“, und es wurde für das Deutschlandradio realisiert.
Geboren und aufgewachsen ist Sam Auinger in den 50er und 60er Jahren in Oberösterreich, in einem Dorf zwischen Linz und St. Florian. Beim Projekt „6er läuten“ hatte er sich auf eine Art Spurensuche nach den Klängen seiner Kindheit begeben.
Gänse und Autos
„Das interessante war, dass diese Klänge damals alle ihre Bedeutung hatten. – Wenn ich in der Küche bei uns am Bauernhof gesessen bin, habe ich erkennen können, ob das auf dem Kiesweg ein fremder oder ein mir bekannter Schritt ist. Die Gänse waren so was wie Hofpolizisten; die haben das Wetter und jeden Fremden angezeigt. ‚Hait san die Gäns wieda narrisch, hait kummt a´wetta‘, hat es geheißen. Jeder Bauer, der für einen ganzen Tag wegfuhr, ging oder fuhr vorab einmal rund um seinen Hof. Wenn man also hörte, dass der Nachbar mit dem VW-Bus um seinen Vierkanthof fuhr, wusste man, dass er vor Abend nicht zurückkommen würde. Und überhaupt kamen Autos sehr selten.“
„Damals“, erklärte mir Sam Auinger weiter, „gab es auf dem ganzen Hof keine stehenden Wellen, kein Geräusch, das nur irgendwie so mitlief. Es war eine ganz andere Art von Tiefenhören. Jede Maschine wurde wieder ausgeschaltet, sobald die Arbeit fertig war. Die körperlichen Arbeiten, das Mähen mit der Sense, das Kornschaufeln, hatten ihre eigenen Rhythmen. Rhythmen, die entstanden, weil ein Mensch eine Arbeit so ausführte, dass er sie lange verrichten konnte, ohne sich kaputt zu machen. Und noch eine Sache, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann: Damals war es selbstverständlich, dass manche der alten Leute auf dem Lande unter der Woche ohne Zähne redeten. Die haben das Gebiss nur am Sonntag reingetan, auch weil es nie richtig passte. Diese Art Reden ohne Zähne ist ein Moment aus meiner Kindheit. Es gibt unendlich viele Klänge und Geräusche, die mich damals total faszinierten. Wir Kinder haben – ein sehr fieses Spiel – Wespen in verschiedenen Gläsern gefangen, um zu hören, wie sie darin summen. Bis heute gibt es für mich keinen schöneren Klang als den eines leichten Regens in einem Nadelwald. Oder das Läuten der Glocken: „Zum Sechseleutn bist wieda daham“, gab mir meine Großmutter immer mit auf den Weg.“
Vom „6er läuten“ und der Kraft des Radios
Für sein Projekt „6er Läuten“ hat Sam Auinger 2008 einige dieser Kindheitsgeräusche nachgestellt. Das zu bewerkstelligen, scheint im ersten Moment vielleicht nicht sehr spektakulär – und war dennoch eine Herausforderung: „Ich bin dafür nach Rumänien oder nach Tschechien gefahren. In Österreich ist es heute nahezu unmöglich, ein Sensenmähen aufzunehmen, ohne dass von irgendwo ein Auto oder Flugzeug zu hören ist. Andere Dinge habe ich beim ORF gefunden. Mitschnitte von der Fronleichnamsprozession zum Beispiel, die damals immer im Sonntagsradio übertragen wurden.“
Es war also ein ziemlicher Aufwand, bis die zusammengetragenen Kindheitsgeräusche, insgesamt 40 Klangbilder, schließlich im Radio ausgestrahlt werden konnten – und bei Zuhörern teilweise starke Reaktionen auslösten: „Das war sehr berührend und überraschend, mitunter wirklich dramatisch“, so Sam Auinger. „Ich erinnere mich an die Reaktion einer Dame aus München, die uns einen sehr langen Brief schrieb. Sie war in Garmisch-Partenkirchen aufgewachsen und hatte eine sehr schlimme Kindheit, die sie über Jahrzehnte verdrängte. Und das war ihr nun durch die Geräusche von einst schlagartig bewusst geworden. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie einen Teil ihres Lebens komplett ausspart, und dass es in diesem Teil auch noch ganz andere Sachen gab als ihren Vater. Sie saß heulend in ihrem Bett und schrieb diesen Brief. Für uns war das auch ein Beweis, wie viel Kraft Radio immer noch haben kann.“