Weiter zum Thema Autoklänge: Wie gesagt, erzählte mir der Komponist und Klangphilosoph Sam Auinger von einem Kinderspiel, das er als Junge auf einem Dorf bei Linz gemeinsam mit Freunden spielte. Er erinnerte sich daran, dass es in seiner Kindheit – er wurde 1956 geboren – viel weniger Autos gab als heute, auch viel weniger Automarken. Beim Spiel ging es darum, Autos zu erkennen: „Als Kinder haben wir uns immer hinter den Streusandkasten gesetzt und geraten, welches Auto gerade vorbeifährt. Der VW-Käfer war eine ganz einfache Übung. Aber auch der 850er Fiat, der Opel Rekord oder der 190er Mercedes Diesel hatten alle einen ganz charakteristischen Klang.“
Ein ganz ähnliches Spiel lief neulich irgendwo im Fernsehen. Ein blinder Mann und Traktor-Fan hatte gewettet, dass er in der Lage ist, Traktoren nur an ihrem Klang zu erkennen. Tatsächlich konnte er von 20 Traktoren nahezu alle bestimmen.
Strategische Autoklänge
Autos klingen verschieden. Auspuff und Motorlager, Motoraufhängung, Ansaugtrakt – es gibt verschiedene Faktoren, die die Autoklänge mitbestimmen. Und man kann davon ausgehen, dass diese Klänge auch früheren Autobauern nicht gleichgültig waren. Diese Klänge hatten jedoch längst nicht den Stellenwert, den sie heute für Konstrukteure und Marketing-Strategen haben.
Heute müssen Produkte auch klingen. Und zwar so, wie es Verbrauchern gefällt. Es werden Sounds für alle möglichen Produkte designt. Flaschen werden so geformt, dass beim Öffnen und beim Ausgießen ein spezieller Klang entsteht. Würstchen sollen auf eine bestimmte Art knacken, wenn man in sie beißt. Neulich hörte ich einen Vortrag, in dem ein bekannter Keks-Hersteller Einblicke in die Strategie seines Sounddesigns gab…
Sounddesign bei Autos
Es gibt nicht den einen idealen Autoklang. Autoklänge müssen zum Fahrzeugtyp bzw. zur jeweiligen Zielgruppe passen – sportlich, aggressiv, dynamisch, freundlich, gediegen usw. Das Autor soll fauchen wie ein Tiger oder auch blubbern wie ein fröhliches Spielzeug.
Zum einen klingen verschiedene Motoren unterschiedlich: Ein V8-Motor klingt anders als ein Vierzylinder, ein Dieselmotor anders als ein Benziner usw. Doch das allein macht noch lange nicht die Autoklänge, die heute gewünscht sind. Autohersteller entwickeln eigene Soundkonzepte, damit der Fahrer bzw. Fahrerin das Auto so erlebt, wie es passt. Motor und Auspuff, alle Komponenten, die zu den Autoklängen beitragen, werden auch mit Blick auf den Sound entwickelt und auf einander abgestimmt. Dieser Prozess beginnt schon sehr früh, lange bevor die ersten Prototypen eines Autos montiert werden. Es gibt Simulationen, mit denen man den Sound am Computer berechnen und dann entsprechend konstruieren kann. Zudem legt jeder Hersteller auch Wert auf eine eigene, charakteristische Note.
Ein Kinderspiel wie das eingangs beschriebene dürfte heute jedoch schwierig zu spielen sein. Zu viele verschiedene Autos. Und vor allem: zu viele Autos, um sich auf den Klang eines einzelnen konzentrieren, ihn abspeichern und wiedererkennen zu können. Auch E-Autos werden daran nichts ändern.
Eine Geisterscheinung
Neulich hatte ich eine unheimliche Begegnung mit einem Auto – und zwar in Heidelberg beim Audiologenkongress. Es war ziemlich spät. Ich kam aus einer Kneipe, in der ich mit anderen „Hör-Leuten“ den Abend verbracht hatte, und stand an einer kleinen, schmalen Gasse, um irgendwie ins Hotel zu kommen. Natürlich hatte es in der Kneipe auch Bier gegeben. Aber ich hatte nicht so viel davon getrunken, dass es erklärt hätte, warum ich plötzlich eine Art Geisterscheinung hatte.
Der Geist, der mir erschien, war ein Taxi. An sich sind Taxis keine Geister, man sieht sie überall. Aber dieses Taxi stand plötzlich da, ungefähr einen Meter vor mir. Es schien vom Himmel gefallen zu sein. Ich wurde das erste Mal im Leben von einem Taxi erschreckt.
Erklären ließ sich alles ganz simpel. Es war ein E-Taxi. Und es fuhr mehr oder weniger geräuschlos. Ich hatte mich nur mal kurz von der Fahrbahn abgewandt und nicht bemerkt, wie es um die Ecke gebogen und bis vor meine Füße gerollt war.
Von lautlosen Autos
Früher machte nahezu jedes Ding ein Geräusch und jedes Geräusch hatte eine Bedeutung. Mit der Industrialisierung entstanden so viele zusätzliche Geräusche, dass man sie nicht mehr aufnehmen konnte. Viele Geräusche verloren ihre Bedeutung bzw. bekamen sie für viele Menschen oft gar nicht erst eine. Man lernte einfach, Geräusche gar nicht zu beachten. Und nun sind wir soweit, dass wir Autos entwickeln, die keine Autoklänge mehr haben. Ein Fortschritt? Weil Autos uns nun nicht mehr akustisch belästigen?
Meiner Meinung nach ist es einfach absurd. Fahrende Autos, die man nicht mehr hört, sind noch gefährlicher als andere. Dass man überhaupt auf die Idee kommt, dass ein lautlos fahrendes Auto eine sinnvolle Entwicklung sein könnte, sagt eine Menge darüber aus, welches Verhältnis wir dem Hörsinn mittlerweile noch einräumen. Wenn es in der Steinzeit lautlose Säbelzahntiger gegeben hätte, wären wir vermutlich nie in die Verlegenheit gekommen, ein paar hunderttausend Jahre später Autos zu bauen.
Der Gesetzgeber
Dass lautlose Autos eine Gefahr sind, hat man mittlerweile auch eingesehen. Bei langsam fahrenden Hybrid-Fahrzeugen z. B. hatte es doppelt so viele Unfälle mit Fußgängern gegeben als bei anderen Autos. Und deshalb hat die EU die Autobauer verpflichtet, ihre E-Autos mit Autoklängen bzw. mit akustischen Warnsignalen zu versehen. Seit Sommer 2019 müssen alle neuen Hybrid- und Elektroautos beim langsamen Fahren Geräusche machen – obwohl sie sie eigentlich nicht machen. 2020 müssen alle neu zugelassenen Elektro-Autos klingen. Und klingen sollen sie dann ungefähr wie in diesem Klangbeispiel.
Die Autoklänge sollen sich an denen von Verbrennungsmotoren orientieren, beim Beschleunigen höher und beim Bremsen tiefer werden. Bei schneller Fahrt sind die künstlichen Autoklänge nicht nötig. Da reicht das tatsächliche Geräusch der Reifen auf dem Asphalt.
Autos mit Zukunft?
Werden wir also demnächst alle E-Autos mit künstlichen Klängen fahren? Zumindest für eine Stadt wie Berlin kann und will ich mir inzwischen nicht mehr vorstellen, dass das eine Lösung sein soll. Ich bin kein Autohasser. Ich bin früher mal gerne Auto gefahren und manchmal mag ich es heute noch. Und ich verstehe, dass Leute arbeiten müssen, um zu leben, und dass sie deshalb nicht einfach ihr Auto abschaffen können. Aber ich verstehe inzwischen auch, dass man Autos hassen kann.
In Berlin sind es einfach zu viele. Hier ist klar, dass auch die nächste Umgehungsstraße oder der nächste Autobahnabschnitt keine langfristige Lösung sein können. Und es werden immer mehr Autos.
Die Idee individueller Mobilität verkehrt sich ins Gegenteil. Wenn du in Berlin Auto fährst, wirst du ständig ausgebremst, du stehst im Stau und du weißt nie, wann du ankommst, geschweige denn, wo du einen Parkplatz findest. Einmal abgesehen vom Dreck, vom Lärm und den Folgen – es funktioniert einfach nicht mehr. Es kostet unnötig Zeit und Nerven. Es frustriert. Es ist nur noch absurd. Und es ist auch nicht einzusehen, dass sich das Leben einer Stadt zuerst einmal an einer unendlichen Flut rollender und zumeist parkender Autos ausrichtet. Warum muss diese Welt voll mit wartenden Autos sein, die irgendwem gehören? Warum kann derselbe Platz nicht einfach für andere, sinnvollere Dinge genutzt werden – von allen? Und warum soll es überhaupt erstrebenswert sein, jeden seiner Wege in möglichst hohem Tempo und mit möglichst keiner körperlichen Anstrengung zurückzulegen?
Diese Fragen führen natürlich ein bisschen vom Thema Hören weg. Aber sie sind wichtig und betreffen eigentlich jeden. Wie die Autoklänge zeigen, sind die Themen Hören und Mobilität eng verbandelt. Und deshalb bleiben wir noch dabei. Im nächsten Artikel geht es ums Fahrrad.
Die Fotos des Beitrags zeigen einen alten Benz-Wagen aus dem Berliner Technik-Museum, Auto-Streetart aus London und einen Trabbi mit Spoiler.