Eigentlich dreht sich die Hörgräte bzw. dieser Blog ja eher um Themen, die langfristig aktuell sind. Und natürlich hoffen gerade alle, dass die Corona-Krise eher nicht langfristig aktuell ist. Hören will man von Corona eigentlich auch nichts mehr, nachdem das nun schon so lange kocht… Ignorieren geht aber auch nicht. Und Blog-Themen, die jetzt eigentlich geplant waren, gehen schon gar nicht. Also zum Beispiel ein Beitrag über Ohrendruck beim Fliegen für Kinder. Dann also doch wieder Corona bzw. Hören und Corona. Weil es da ein paar Dinge gibt, die ich hier mal zusammentragen möchte.
Pandemie und bei Sinnen bleiben
Aktuell sitze ich wie die meisten im Homeoffice. (Wobei es bei mir eigentlich kein Homeoffice ist, sondern mein Büro, das auch ohne Corona mein Büro ist.) Und ich mache hier das, was ich sonst auch mache, vor allem Texte. Reisen – was ich sonst außerdem viel mache – geht leider nicht. Und ansonsten wirkt das Leben im Büro irgendwie entschleunigt (was gar nicht unangenehm ist), und das Leben da draußen irgendwie irrational bzw. verrückt (was mit der Zeit ziemlich unheimlich wird). Bei offenem Fenster ist es meist recht still. Man hört die Vögel. Manchmal frage ich mich, warum sie immer noch so singen – also trotz Krise…
Klar ist es wichtig, in so einer Corona-Situation wie jetzt bei Sinnen zu bleiben – also im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten bzw. in einer Verfassung, in der man sich auf die eigenen Sinne verlassen kann. Ständig neue, einander widersprechende Kundgaben oder gar Meinungen können ja schon ziemlich verrückt machen, wenn man nicht irgendwie bei sich bleibt. Andererseits ist es wichtig, gut informiert zu sein. Schon sind wir beim Hören.
Hörakustik und Krise
Die Pandemie kam plötzlich. Montags war ich noch bei den Goldenen Bloggern, und über manchen Gag, der an diesem Abend gemacht wurde, hätte ein paar Tage später keiner mehr gelacht. Shutdown, und auf einmal gab es systemrelevante Berufe und all die anderen. Pfleger*innen, Kassierer*innen, Virolog*innen wurden auf einmal sehr wichtig (sind sie ja eigentlich immer), und Immobilienmakler, Investment-Banker oder Fußballspieler spielten keine Rolle mehr. Das Leben hatte eine neue Ordnung.
Auch Hörakustiker*innen bekamen den Status „systemrelevant“ (ebenso wie Augenoptiker*innen oder Apotheker*innen). Hörakustik-Geschäfte durften ihre Kunden weiter betreuen, auch wenn natürlich weniger Kunden kamen. Viele Geschäfte haben erstmal auf Notbetreuung umgestellt, zum Teil ganz geschlossen – auch um die Mitarbeiter und deren Familien zu schützen. Natürlich hat keiner mehr groß die Werbetrommel gerührt und gerufen: „Kommt alle und testet die neuesten Hörgeräte!“ Zumindest habe ich so was nirgendwo gehört. Die Versorgung mit Hörimplantaten in den spezialisierten Kliniken wurde in den ersten Wochen nach dem Shutdown weitestgehend eingestellt, um dort Kapazitäten freizuhalten.
Es ist nicht leicht, in so einer Situation die richtigen Entscheidungen zu treffen. Für so einen Hörakustik-Betrieb steht eben viel auf dem Spiel. Deshalb gab es Diskussionen unter Hörakustiker*innen: Wie muss man sich verhalten, wenn man systemrelevant ist? Und ist man als Hörakustiker überhaupt systemrelevant? Dass Menschen noch Essen, Klopapier und ggf. medizinische Versorgung brauchen, ist ja klar. Aber gutes Hören?
Ist Hören systemrelevant? – die fünf Punkte
Wenn Hören nicht systemrelevant wäre, könnte man im Notfall darauf verzichten. Kann man? Hier meine fünf Punkte zum Thema Hören und Corona:
- Es ist offensichtlich ganz entscheidend, in so einer Krise gut informiert zu sein. Gehörlose Menschen, die auf Gebärdensprache angewiesen sind, beklagten gerade in den ersten Tagen der Corona-Krise den Mangel an gebärdensprachlichen Übersetzungen in den Medien. Da äußern sich Politiker*innen und Virolog*innen live über Tatsachen und Entscheidungen, die das Leben aller betreffen bzw. verändern, und man versteht nichts. In vielen anderen Ländern ist es selbstverständlich, dass gerade solche Informationen barrierefrei sein müssen. Andererseits zeigen aber auch schon die Reaktionen der Gehörlosen, wie systemrelevant Hören für Hörende ist – also auch für diejenigen, die mit Technik gut hören und daher meist keine Gebärdensprache können.
- Wir bleiben zu Hause, alle. Vor allem natürlich die Risikogruppen: ältere Menschen, Menschen mit Grunderkrankung, ältere Menschen mit Grunderkrankung… Ein Großteil derjenigen von uns, die mit Hörtechnik leben, sind zugleich Risikogruppe. D. h. sie sollten besonders vorsichtig sein, jedes Risiko einer Infektion vermeiden. Andererseits sind sie auf ihre Technik angewiesen. Ein Hörgerät oder Hörimplantat ist nicht irgendein Gerät (also z. B. wie eine Fritteuse). Wer ein Hörgerät trägt, lebt mit einem Ersatzteil – für einen Sinn. Und wenn das Ersatzteil nicht mehr tut, was es soll, hat das Konsequenzen – gerade auch, wenn man zu Hause sitzen muss: Den Fernseher nicht mehr verstehen. Die Familie am Telefon nicht mehr verstehen. Abgeschnitten sein von der Welt, die gerade am Durchdrehen ist. Dass das nicht nur langweilig ist, sondern auch unglücklich machen kann, ist wohl jedem klar. Und wenn sowas dann Wochen und Monate geht…
- Eine Herausforderung sind Hören und Corona aber nicht nur für diejenigen, die schlecht hören und daher mit Hörtechnik leben. Nicht weniger groß ist die Herausforderung für diejenigen, die schlecht hören und nicht mit Hörtechnik leben. Und diese Gruppe ist ziemlich groß. Wie groß genau, darüber gibt es unterschiedliche Angaben. In jedem Fall müssten mehrere Millionen Bundesbürger*innen Hörgeräte tragen, warten aber noch ab. Und natürlich ist ein Großteil: Risikogruppe. D. h. auch die sitzen jetzt zu Hause für Wochen oder Monate und machen die Erfahrung, wie es ist, isoliert zu sein und obendrein schlecht zu hören.
- Richtet sich die Welt auf ein längerfristiges Leben mit dem Virus ein. Vermummungsverbot war gestern. Heute gilt: Maskenpflicht. Wie problematisch die für gehörlose oder hochgradig hörgeschädigte Menschen ist, die es gelernt haben, vom Lippenbild abzusehen, wird in den Medien gerade ausführlich diskutiert. Es gibt Leute aus der Hörgeschädigten-Szene, die sich für Masken mit Sichtfenster einsetzen. In den Medien werden die gerade als „Masken für Hörgeschädigte“ vorgestellt, was eigentlich absurd ist, weil solche Masken ja nicht diejenigen tragen müssten, die Lippenbild brauchen, sondern vielmehr diejenigen, deren Lippenbild gesehen werden soll – also eigentlich alle. Aber mal abgesehen davon, wie gut das mit diesen Sichtfenstern funktioniert und wie hilfreich Masken überhaupt gegen den Virus sind… Das Lippenbild, das hinter einer Maske verschwindet, ist auch für viele Menschen wichtig, denen das gar nicht bewusst ist und die von sich niemals behaupten würden, sie könnten von den Lippen absehen. Wer mit einem nachlassenden Gehör lebt und nichts dagegen unternimmt, der erwirbt Techniken, den Hörverlust auszugleichen. Diese Menschen „kleben“ häufig an den Lippen ihrer Gesprächspartner. Oft tun sie das, ohne dass es ihnen selbst bewusst ist. Aber um zu verstehen, saugt das Gehirn auch aus dem Lippenbild wichtige Hinweise. Umso wichtiger also jetzt, diese zusätzlich fehlenden Informationen durch gut eingestellte Hörgeräte auszugleichen…
- Und noch einmal Hören und Corona und Maskenpflicht: So eine Maske nimmt nämlich nicht nur das Lippenbild, sie dämpft auch Schall. Jedes Wort muss durch das Material. Es wird nicht hinter vorgehaltener Hand oder durch die Blume gesprochen, aber durch die Maske – und das ist ungefähr das gleiche. Auch diese klangliche Veränderung ist eine Herausforderung – auch für diejenigen, die mit Hörtechnik hören. Und auch dafür braucht man ggf. die Unterstützung von Hörakustiker*innen…
Immer noch hören und verstehen
Hören und Corona? Ich denke, es gibt gute Gründe, warum man Hören bzw. Hörakustik „systemrelevant“ nennen kann. Und ich finde es großartig, wie viele Hörakustik-Betriebe sich sofort mit viel Engagement und Ideen daran gemacht haben, weiter für ihre Kunden da zu sein. Natürlich geht es da ebenso um die eigene Existenz. Auch Hörakustiker brauchen Essen… Aber sie haben auch eine Menge Verantwortung. Und die nehmen sie sehr ernst und dafür – wie mir in den letzten Tagen einige erzählt haben – bekommen sie die Wertschätzung vieler Kunden. Die Leute sind eben wirklich froh, in einer Situation wie dieser noch hören und verstehen zu können.
PS: Die Fotos zum Beitrag über Hören und Corona sind vom Müggelsee in Berlin-Köpenick im Corona-Frühling 2020, sehr früh am Morgen und in aller Stille aufgenommen. Sonst kam ich kaum noch irgendwohin, um Fotos zu machen. Und ein bisschen Ruhe tut ja immer gut…