Sehen statt hören statt sehen? – Klar, wer beides kann, der möchte beides nicht missen. Meistens jedenfalls. Es gibt auch Dinge, vor denen man am liebsten die Ohren verschließen würde. (Dann ist es ein klarer Vorteil, wenn man mit Technik hört, die sich abstellen lässt.) Und es gibt Dinge, die man nicht mit ansehen mag. Dann kann man die Augen schließen. Aber Hören oder Sehen?
Was würdest du wählen, wenn du dich entscheiden müsstest? Vorausgesetzt, dass du beides kannst, ist das natürlich nur eine theoretische Frage. Deine Antwort entscheidet nichts für dein Leben. Hin und wieder stelle ich die Frage Journalist*innen – als Einstieg in ein Gespräch über moderne Hörtechnik. Nach meiner Erfahrung lautet die spontane Antwort immer gleich: Sehen. Ehe man nichts mehr sieht, hört man lieber nichts mehr. Hören statt sehen scheint eher noch schwieriger.
Nicht hören und nicht sehen
Ich glaube ja, dass diese (nichts entscheidenden) Entscheidungen etwas darüber aussagen, welchen Stellenwert Hör- und Sehsinn in der modernen Welt haben. Und damit, wie selbstverständlich das Hören für diejenigen ist, die es können. Man hört eben immer.
Es gibt ein Zitat, auf das man in der Hörakustik (in Artikeln, in Werbung…) überall stößt – viel häufiger als auf irgendein anderes Zitat. Ich konnte bis heute nicht herausfinden, ob dieses Zitat tatsächlich vom Philosophen Immanuel Kant stammt (wie meist gesagt wird) oder doch von Helen Keller (wie manchmal gesagt wird) oder von noch jemand anderem. Das Zitat lautet: „Nicht sehen können trennt von den Dingen, nicht hören können von den Menschen.“ – Also, auf was ließe sich eher verzichten?
Augentiere – und was sie verlernt haben
Der Mensch ist ein Augentier? Es spricht vieles dafür, dass die moderne Welt vor allem eine Welt des Sehens ist – und dass das nicht immer so war. Wollen wir ein Ding kennen lernen, dann machen wir uns ein Bild von ihm – und kein Geräusch. Wir betrachten die Welt (und belauschen sie eher selten), tun das aus einem Blickwinkel (nicht aus einem Hörwinkel). Vielleicht gelingt es uns, Dinge mit anderen Augen zu sehen (nicht aber, sie mit anderen Ohren zu hören). Und wenn wir die Welt bereisen, dann suchen wir Sehenswürdigkeiten. Wie sagt man zu Hörenswürdigkeiten? Gibt es dafür ein Wort? Ich denke, man sagt auch viel öfter: „Das musst du gesehen haben!“ als „Das musst du gehört haben!“…
Unsere Sprache – und damit unser Denken – sieht das Sehen klar vor dem Hören. Es fällt deshalb schwer, sich vorzustellen, dass Menschen mal Ohrentiere waren. Irgendwann, als die Welt um uns herum immer lauter wurde, als es immer mehr Geräusche gab, die für unser Leben völlig bedeutungslos waren (und sind), haben wir begonnen wegzuhören, es auszublenden.
Wir sind Meister im Nicht-hören (wie mir der Philosoph und Klang-Künstler Sam Auinger in einem Interview erklärte). Eigentlich ist Ausblenden eine der großartigsten Funktionen, die ein intakter Hörsinn hat: Schall zwar noch hören, ihn aber zugleich nicht an sich ranlassen.
Wir haben diese Funktion jedoch soweit perfektioniert, dass wir es schaffen, uns an eine Hauptverkehrsstraße zu setzen, um Kaffee zu trinken und uns zu entspannen – bei Lärmpegeln, die vor hunderten Jahren nur durch Naturgewalten oder Kriege erreicht wurden. Es interessiert nicht (bzw. viel zu wenig), dass manche Kinder in Klassenräumen lernen, in denen Lärmpegel von Autobahnen erreicht werden. Weil wir gelernt haben, dem Hören keine allzu große Bedeutung einzuräumen, kommen wir auf absurdesten Ideen – zum Beispiel, „umweltverträgliche“ Autos bauen, die man nicht mehr hören kann.
Gott, das Wissen und die Druckerpresse
Der kanadische Komponist und Klangforscher R. Murray Schafer hat eine Kulturgeschichte des Hörens geschrieben; ein dickes, sehr erhellendes Buch mit dem Titel „Die Ordnung der Klänge“. Darin beschreibt er u. a., wie seit der Renaissance in der westlichen Welt „das Ohr dem Auge als wichtigstes Organ der Informationsaufnahme untergeordnet“ wurde.
Schafer führt das vor allem auf zwei Dinge zurück, die in der Renaissance erfunden wurden – auf die Druckerpresse und auf die perspektivische Malerei.
Vor dem Buchdruck und der Möglichkeit, in großer Zahl Schriften und Bücher zu vervielfältigen, konnten die wenigsten Menschen lesen und schreiben. Handschriften zu lesen und zu vervielfältigen gehörte über Jahrhunderte zu den Aufgaben der Mönche. (Darüber hatte ich schon im Beitrag über Brillen und Hörgeräte gebloggt.) Im Mittelalter konnte auch der Adel kaum lesen. Heldendichtungen wie die von König Artus wurden vorgetragen – also gehört. Und bis die einfachen Leute lesen konnten, dauerte es auch nach Erfindung des Buchdrucks noch ewig. Alles Wissen, das nicht Dinge betraf, die man unmittelbar sehen und anfassen konnte, kam nur über einen Weg in den Kopf: Über das Ohr. Gedanken, Geschichte und Geschichten, Abstraktionen (also das nicht sichtbare Wissen) wurden von Mund zu Ohr übermittelt.
Und noch was gab es nur mündlich: „Das Wort Gottes“. Man konnte den Gott – der alles erschaffen, bestimmt und gelenkt hat – nicht sehen. Erst in der Renaissance entstehen Portraits von Gott. Schafer schreibt, dass Gott für die Menschen in früherer Zeit eher ein Klang oder eine Vibration gewesen sein muss. Vielleicht wie ein Orgelklang, Glockenläuten oder ein fürchterliches Gewitter.
Hören statt sehen? – Trendsache Ohr
Ich finde es nicht leicht, sich das vorzustellen. Aber es ist spannend. Die Druckerpresse muss ein mindestens ebenso weltveränderndes Ding gewesen sein wie heute das Internet.
Vorstellbar ist mir jedoch, dass das moderne, vernetzte Leben dieses Verhältnis von Auge und Ohr noch einmal grundlegend umkehrt. Schon weil heutige Technik mobil ist, sie immer mehr zu uns gehört und man sie deshalb auch bei sich hat, wenn man durch die Welt geht.
Sobald man sich bewegt, ist das Auge als Kanal für zusätzliche Informationen nur noch sehr bedingt geeignet. Es ist ziemlich umständlich und mitunter gefährlich, durch eine Stadt zu laufen und nebenbei ständig auf ein Display zu gucken. Es ist vermutlich kaum weniger gefährlich, über eine Straße zu laufen und gleichzeitig noch die Informationen einer Datenbrille zu verfolgen. Und eine VR-Brille ist dann toll, wenn man sich nicht bewegt bzw. nur in einem geschützten Raum.
Aber über das Ohr geht ganz viel. Das Ohr ist der Ort, an dem jederzeit Informationen rein können; egal, wo man sich befindet. Das gesamte Weltwissen könnte da rein. – Natürlich immer nur der Teil vom Weltwissen, den man tatsächlich wissen möchte. Und das andere kann man draußen lassen. Schon um Nerven und Gehör zu schonen. Hören statt sehen? Mit multifunktionaler Technik am Ohr? Ich glaube, das wird noch richtig spannend.
PS: Die Bilder zum Beitrag „Sehen statt hören statt sehen“ machen alle große Augen – Augen-Graffiti aus Berlin-Kreuzberg, London Tower Hamlets, Amsterdam, Münster, Berlin-Köpenick; dazu ein Teppich oder Vorhang vom Waterlooplein Amsterdam.