Katastrophen und Sirene? – Kürzlich las ich den Roman „Weißes Rauschen“ des US-amerikanischen Autors Don DeLillo. Das Thema Hören steckt schon im Titel, auch wenn das Weiße Rauschen hier mehr ein Bild ist. Genauer gesagt, ist es bei Don DeLillo ein Bild für die Allgegenwart des Todes. Aber auch das führt uns zum Thema. Und um Akustik geht es im Buch auch (zumindest auf einer halben Seite).
Das „versteckte Klangmonster“
Im Roman, der in einer Kleinstadt in den USA angesiedelt ist, ereignet sich in einer Chemiefabrik ein Unfall mit Giftgas. Es ist also eine von zahlreichen Katastrophen, die sich (gefühlt) fortlaufend irgendwo auf der Welt ereignen. Der Ich-Erzähler und seine Familie erleben den Ausbruch „ihrer“ Katastrophe zuerst mit den Ohren – was Don DeLillo großartig beschreibt:
„Wieder ertönten Luftschutzsirenen, diesmal so dicht bei uns, dass wir negativ betroffen, ja so davon erschüttert wurden, dass wir es vermieden, einander in die Augen zu sehen, um dadurch zu bestreiten, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Das Geräusch kam von unserem eigenen roten Backstein-Feuerwehrhaus. Sirenen, die ein Jahrzehnt oder länger nicht mehr ausprobiert worden waren. Sie gaben ein Geräusch von sich wie ein territoriales Kreischen aus dem Mesozoikum. Wie ein Papageienraubtier mit der Flügelspannweite einer DC-9. Welch eine Heiserkeit brutaler Aggression erfüllte das Haus, vermittelte das Gefühl, die Wände wollten bersten. So dicht bei uns, so definitiv über uns. Erstaunlich, sich vorzustellen, dass dieses Klangmonster jahrelang ganz in der Nähe versteckt gewesen war.“
Beim ersten Lesen musste ich an die Sirenen denken, die es in meiner Kindheit gab: dieser unheimliche, alles überdeckende, an- und abschwellender Ton, den man nicht ignorieren und nur abwarten konnte. Denn ging die Sirene mittwochs um eins (und so war es meist), wusste man, es ist der wöchentliche Probealarm. Den gab es zumindest auf dem Land überall in der DDR. War es ein anderer Zeitpunkt, brannte es vielleicht. Irgendwas war geschehen. Ein Brand war aus Sicht von uns Kindern das Wahrscheinlichste. Oder es wurde zum Beispiel ein Haus gesprengt; was in Ostberlin Anfang der 70er häufiger vorkam. Nur die Erwachsene dachten beim Sirenenton noch an Luftangriffe.
Wohlklingend, weiblich und mörderisch
Abgesehen davon gibt es Sirenen auch in der Mythologie, etwa beim Seefahrer Odysseus. Bei ihm warnen die Sirenen nicht, sie sind vielmehr selbst die Gefahr, in die sie andere mit ihren Stimmen locken. Bei Odysseus haben die Sirenen nicht nur lockend schöne Stimmen; sie können auch in die Zukunft sehen. Das interessiert Odysseus. Damit es keine Katastrophe gibt, müssen sich seine Leute die Ohren mit geschmolzenem Wachs verstöpseln, und er selbst lässt sich an den Schiffsmast binden – solange, bis er die Sirenen nicht mehr hört und ihr Zauber vorbei ist.
Bei Odysseus (bzw. dem Dichter Homer) heißen die Sirenen nur Sirenen. Später hat man ihnen Namen gegeben, zum Beispiel „die mit der schöneren Stimme“ (Aglaophonos) oder „Sanfte Stimme“ (Himeropa) oder „die Helltönende“ (Ligeia). Man stellte sich die Sirenen als weibliche Fabelwesen vor, manche bekamen Bärte, manche waren eine Mischung aus Mensch und Vogel oder Mensch und Fisch. Und sie konnten schön singen, um Männer anzulocken und zu fressen. Andere Sirenen konnten auch beim Beklagen der Toten helfen oder fliegen oder reihenweise Männer verführen… Sagenfiguren verändern sich im Laufe der Jahrhunderte, d. h. Menschen verändern sie so, wie sie sich die Figuren vorstellen und wie sie in die jeweilige Zeit passen.
Sirene – ein ständig unterbrochener Luftstrom
Die Sirenen der Sagenwelt waren die Namensgeber für die anderen Sirenen. (Deren Erfinder Charles Cagniard de la Tour hat den Namen Anfang des 19. Jahrhunderts einfach übernommen; Verbindungen zwischen neuester Technik und Mythologie waren damals ziemlich trendy – wie ich auch hier schon geschrieben hatte.) Die ersten Sirenen waren mechanisch, von Hand und später auch mit Motor angetrieben. Das Prinzip ist ungefähr so: Ein Rotor mit mehreren Schaufeln dreht sich in einem Gehäuse, das mehrere Aussparungen hat. Der dabei entstehende Luftstrom wird durch diese Aussparungen immer wieder unterbrochen, und so entsteht der Ton.
Die Höhe eines Sirenentons hängt davon ab, wie schnell sich der Rotor dreht und wie viele Schaufeln er hat. Das der Ton an- und abschwillt, hat damit zu tun, dass der Rotor erst angekurbelt und dann wieder verlangsamt wird. Davon abgesehen gibt es auch noch andere Sirenen-Arten, bei denen der Ton pneumatisch bzw. elektronisch erzeugt wird. Aber so weit wollen wir‘s hier mit der Technik nicht treiben. Anmerken können wir noch, dass es in West- und Ostdeutschland traditionell unterschiedliche Sirenen gibt. Die E 57, die Einheitssirene aus dem Westen, schafft eine Lautstärke von 101 Dezibel und in einem dünn besiedelten Gebiet bei 600 Metern Entfernung erzeugt sie immer noch 70 Dezibel; sie ist dann also immer noch so laut, das es nervt. Die DS 977, die in der DDR gebaut wurde, kommt auf 127 Dezibel. Und die anderen erwähnten Sirenenarten schaffen zum Teil sogar 130 Dezibel – also die Schmerzschwelle; ungefähr wie ein platzender Luftballon.
Das Verschwinden der Sirenen
In den großen Städten verschwanden die Sirenen schon ab den 70er Jahren. Die Städte waren auch so laut genug, sie mussten nicht bei jedem Feuerwehreinsatz noch lauter werden. Die Feuerwehr alarmierte sich deshalb still über Funk. – Sirenen haben eben einen klaren Nachteil: Leute, die nicht alarmiert werden müssen, werden belästigt.
Nach Mauerfall und Wiedervereinigung ging man dann davon aus, dass sich das mit den Sirenen auch sonst erledigt hat. Es gab zwar noch Orte, die eine nutzten; etwa für die Freiwillige Feuerwehr. Doch oft hat man die mechanischen Sirenen gegen elektronische ausgetauscht oder gleich ganz abgeschafft. Die Sirenenköpfe, die den Schall in der Gegend verteilen, sitzen auf Masten (manchmal auch auf Dächern); häufig wurden aus den eingesparten Sirenen-Masten nun Rundfunk- oder Mobilfunkmasten.
Ob Virus, Hochwasser, extremes Wetter… Die Katastrophen scheinen derzeit nicht weniger zu werden. In Berlin, wo ich wohne, sollen in Katastrophenfälle insbesondere Apps und Radio dafür sorgen, dass die Bevölkerung rechtzeitig gewarnt ist. Doch auch das hat einen klaren Nachteil: abgesehen davon, dass die Netzabdeckung durchaus Wünsche offenlässt, Strom- oder Funknetze können auch zusammenbrechen – und zwar vor allem in Katastrophenfällen.
Das Hochwasser und die Sirenen
Welch dramatische Folgen es haben kann, wenn die Bevölkerung im Katastrophenfall nicht rechtzeitig und angemessen gewarnt wird, zeigten in diesem Sommer die Hochwasser in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz: Nicht nur, dass viele Medien nicht warnten; es kam auch zu Stromausfällen und zum Ausfall von Kommunikationssystemen. Menschen wurden ohne jede Vorwarnung in ihren Wohnungen von Wassermassen überrascht, hunderte starben.
„Vielleicht ist die gute alte Sirene nützlicher, als man gedacht hat“, meinte Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Besuch im Katastrophengebiet. Damit entsprach sie dem, was Expertinnen und Experten von Technischem Hilfswerk oder Feuerwehr sagen: Mit Sirenen ist es im Falle einer nahenden Katastrophe klar sicherer.
Das Verbindende der hörbaren Gefahr
Und da ist noch was: Die Beschreibung von Don DeLillo zeigt, dass der Klang der Sirene mehr ist als eine Warnung. Die Sirene ist auch ein akustisches Erlebnis, dass alles beherrscht und jeder teilt. Jeder (der hören kann) hört das Signal und ahnt sofort, dass die Lage ernst ist. Die Sirene zu ignorieren, könnte hingegen höchst fahrlässig sein. Also fragt man, was los ist, schaltet das Radio ein, tritt in Kontakt, rückt zusammen. Die Sirene hat somit auch etwas Verbindendes. Gefahr stiftet Gemeinschaft. Die Situation ist schlagartig eine andere, und die Sirene fordert Antworten: Was ist los? Was sollte ich tun – für mich und für andere?
Dieses gemeinschaftsstiftende Warnsignal ist viel älter als die Sirenen-Technik. Früher hatten Glocken die Aufgabe, alle und jeden zu warnen und zu rufen. Über Glocken hatte ich hier schon geschrieben. Häufiges Thema des Blogs ist aber auch, wie wir alle in der modernen Welt verlernt haben, unsere Umwelt überhaupt noch mit den Ohren wahrzunehmen.
Wir sind „Großmeister im Nichthören“. Und während wir früher unsere Welt vor allem akustisch erkundet haben, können wir heute – in der lautesten Welt aller Zeiten – einfach weghören. Hören ist „nicht mehr so wichtig“; und das führt zu ganz absurden Ideen: Man setzt sich zum Kaffeetrinken an eine Hauptverkehrsstraße und glaubt, sich dabei zu entspannen. Man erfindet Autos, die so leise sind, dass niemand sie mehr hört. Oder man baut die Sirenen ab, weil man die Leute im Katastrophenfall auch lautlos alarmieren kann und niemanden unnötig belästigen will.
PS 1: Eine Sirene zum Nachhören findest du hier; und zwar die DS977 auf dem Rathaus von Ottendorf-Okrilla.
PS 2: Die Bilder zum Beitrag zeigen den – dramatisch in Szene gesetzten – Sirenenkopf der Freiwilligen Feuerwehr in Gosen. Das liegt gleich bei Berlin-Köpenick.