Weiter geht’s mit der Geschichte von Hanna Hermann, die 1984 als einer der ersten Menschen in Deutschland (als vierter Mensch) ein Cochlea-Implantat (CI) erhielt, und die wir deshalb hier CI-Pionierin nennen.
Irritiert dich, dass man eine Patientin als „Pionier“ bzw. „Pionierin“ bezeichnet? Weil ein Pionier ja eigentlich jemand ist, der einen neuen Weg bereitet, etwa in Technik und Wissenschaft? Also ein Flugpionier zum Beispiel? Ein Erfinder oder ein Arzt, der sich etwas Neues ausdenkt und dem etwas Bahnbrechendes gelingt? Und eben nicht eine Patientin, die ja nur von einem Arzt behandelt wird?
Patientin und CI-Pionierin?
Die ersten Flugpioniere versuchten, was niemand sonst für möglich hielt. (Denn ein Mensch ist kein Vogel, er kann nicht fliegen…) Wer dennoch fliegen lernen wollte, brauchte nicht nur Erfindungsreichtum, sondern vor allem: Wagemut, Bereitschaft zum Risiko.
Dass ein tauber Mensch hören kann, hielt man früher auch für ausgeschlossen. Bis es dem australischen Professor (und CI-Pionier) Graeme Clark gelang, einen Menschen erstmals erfolgreich mit einem CI hören zu lassen. Zuvor war Graeme Clark von vielen Kollegen verspottet worden. Nicht anders, als der Schneider von Ulm belächelt und verspottet worden war – als Spinner, Clown usw.
Doch zurück zu Wagemut und Risikobereitschaft. Dass der Schneider von Ulm die brauchte, um sich wie keiner vor ihm in den Abgrund (des Donau-Ufers) zu stürzen, leuchtet wohl ein. Aber wie ist das bei einer Operation, bei der es kaum Erfahrung und keine Routine gibt? Und bei der dir zum Beispiel ein Implantat in den Kopf eingesetzt wird? Wer trägt da das größte Risiko und wer braucht den größeren Wagemut? Arzt oder Patient?
Eine Zeitungsschlagzeile
Bevor Hanna Hermann zur CI-Pionierin wurde, war sie zehn Jahre lang taub. Wie gesagt, war sie dennoch nicht unglücklich. Aber sie sagt auch, dass ihr Selbstbewusstsein und ihre Persönlichkeit in dieser Zeit sehr gelitten haben. Um das zu ändern, begann sie nach den zehn Jahren stundenweise wieder als Buchhalterin zu arbeiten.
Dann kam der Sommer 1984. Hanna Hermann war gerade mit ihrer Familie im Urlaub. Und in der Zeitung stand eines Tags ein bemerkenswerter Artikel: „Professor Lehnhardt operiert an der MHH taube Frau. Die Frau hört mit einem Cochlea Implantat.“ – Die MHH ist die Medizinische Hochschule Hannover und Professor Lehnhardt in Hannover war damals der erste deutsche Arzt, der das CI implantierte. (Nachdem er sich das bei dem Kollegen in Australien angeschaut hatte.)
Hanna Hermann erschien dieser Artikel wie ein Wink des Schicksals. Diesen Professor Lehnhardt kannte sie nämlich schon. Er hatte ihr Gehör vor fast 20 Jahren einmal gründlich untersucht – um ihr danach zu erklären, dass er ihr nicht helfen kann. Und jetzt sah es so aus, als könnte er es doch.
Die eigene Stimme hören
„Sofort schrieb ich nach Hannover“, erinnert sich Hanna Hermann. „Dann wurde ich Anfang November untersucht und am 27. November 1984 wurde mir links ein CI eingesetzt. Vor der OP wurden meine Haare bis zur Kopfmitte abgeschnitten und mein Kopf kahlgeschoren. Damals war das alternativlos und es war nicht wirklich angenehm. Aber Angst hatte ich keine, hatte ich doch nichts zu verlieren! Die Operation dauerte etwa vier Stunden. Und die Schmerzen nach der OP waren heftig.“
Bereits eine Woche nach der Operation bekam Hanna Hermann dann ihren Sprachprozessor. Dr. Rolf-Dieter Battmer (ebenso wie Professor Lehnhardt auch ein CI-Pionier) programmierte ihn. Das nur eine Woche nach der OP zu machen, war sehr kurzfristig. (Später hat man viel länger gewartet und auch heute wartet man vielleicht einen Monat, damit die OP-Wunde ausgeheilt ist. Aber inzwischen gibt es ja auch die Erfahrungen aus vielen tausend Operationen, die man bei Hanna Hermanns CI-Versorgung noch gar nicht hatte.)
Jedenfalls schaltete Dr. Battmer den Sprachprozessor ein, und Hanna Hermann konnte nach zehn Jahren zum ersten Mal wieder ihre eigene Stimme hören: „Das beeindruckte mich schwer, denn sie war mir sehr fremd geworden. Ihr Klang war inzwischen sehr metallisch. Aber ich zeigte nicht, wie es mir ging. Während der Taubheit hatte ich mir angewöhnt, meine Gefühle nicht zu zeigen – das war auch in diesem Moment noch so.“
Schritte, Wind und Risiken
Zu sprechen, ohne die eigene Stimme zu hören, können sich viele vermutlich nicht vorstellen. – „Selbstverständlich wusste ich auch dann noch, was ich sage“, so Hanna Hermann. „Aber die eigene Stimme nicht zu hören, hieß eben auch, sie nicht kontrollieren zu können.“
Und dann ging Hanna Hermann mit ihrer neuen Hörtechnik zum ersten Mal los: „Ich lief durch die Halle der MHH, verfolgt von meinen eigenen Schritten. Danach ging ich in den Garten hinter dem Klinikbau, und ich hörte und hörte. Nur wusste ich erst gar nicht, was ich hörte. Ich schaute mich nach allen Seiten um: Ich war allein, weder ein Auto noch sonst was war zu sehen… Schließlich bemerkte ich die Bäume. Sie bewegten sich. Also musste das, was ich hörte, wohl der Wind sein.“
Hanna Hermann traf an diesem ersten Tag noch viele Geräusche: „Ganz besonders viele gab es in der Cafeteria. Dort war der Geräuschpegel kaum auszuhalten.“ Aber das nahm sie in Kauf. Ebenso wie die OP-Narbe, die im großen Bogen weit über das Ohr hinausführte, und die Beule am Kopf, unter der das Implantat nicht sehr tief lag.
Heute sind die OP-Narben sehr klein und eine Beule am Kopf gibt es auch nicht mehr. Damals hießen diese Beulen irgendwann „Lehnhardt-Beule“ (also nach dem operierenden Professor). Und Hanna Hermann musste zwei Monate nach ihrer OP noch einmal operiert werden, weil die Wunde nicht heilen wollte. Wie gesagt: Man wartet seitdem immer erst noch, bis die OP-Wunde vollständig verheilt ist, ehe der Sprachprozessor ans Ohr kommt. Da sind wir wieder bei den Risiken, die eine Pionierin tragen muss.
Hören neu lernen
Vor allem aber änderte das CI Hanna Hermanns Leben: „Das neue Hören wollte nun gelernt werden. Vieles hatte ich vergessen, und alles klang – selbstverständlich – anders, als ich es in Erinnerung hatte. Alles, was ich tat, war mit Geräuschen verbunden, auch das hatte ich total vergessen! Wenn ich beim Metzger einkaufte und dort die Ware in Papier gewickelt bekam, wurde ich fast wahnsinnig wegen des so unangenehmen Geräusches des Papiers! Insgesamt war das Einkaufen jetzt aber um vieles leichter. Ich hörte, ob es im Laden ruhig war oder laut und passte meine eigene Lautstärke der Situation an.“
Ein Hörtraining, wie man es heute kennt, gab es damals noch nicht: „Ich wusste nur, dass es wichtig war, den Prozessor den ganzen Tag zu tragen, auch wenn es mir hin und wieder zu laut ist. Ich musste den ganzen Tag zu hören, damit sich das neue Hören entwickeln kann.“
„Es folgte eine Zeit, in der die Gespräche viel einfacher wurden, weil ich die Sprachmelodie hörte“, so Hanna Hermann. „Darüber hinaus wurde mir sehr bewusst, wie viele Geräusche es gibt. Es kam die Adventszeit und Weihnachten. Ich hörte die Lieder, erkannte sie aber nicht. Vieles blieb anfangs unerträglich laut…“
Die CI-Technik, mit der sie hörte, unterschied sich erheblich von der, die man heute nutzt. Heute sitzt die Technik in einem kleinen Gehäuse hinterm Ohr oder sogar in einem winzigen Gehäuse am Hinterkopf – und am Ohr ist nichts mehr. Der erste Sprachprozessor (oder SP) von Hanna Hermann war noch größer als eine Zigarettenschachtel – und deutlich schwerer.
Kopfbügel und Kabelbrüche
„Ein langes Kabel verband den SP mit der Spule am Kopf, es lag über der Kleidung und ich musste aufpassen, dass ich nirgends damit hängenblieb. Die Spule wiederum wurde von einem Kopfbügel gehalten, der mit zwei Streben quer über dem Kopf lag, quasi von einem Ohr zum anderen. Damit die Töne exakt zum Implantat übertragen werden konnten, musste die Spule sehr genau auf dem Implantat liegen. Das Kabel steckte ich nach einiger Zeit immer am Hinterkopf mit einer Haarklammer fest, was auch der Spule Halt gab. Und für den SP ließ ich mir eine kleine Tasche mit Tragegurt nähen, sodass ich ihn unter Bluse oder Pullover tragen konnte.“
Das mit dem Bügel am Kopf war dann drei Jahre später nicht mehr nötig: „Im Sommer 1987 wurde mir in einer kleinen Operation ein Magnet unter der Kopfhaut auf das Implantat gesetzt. Fortan hielt dieser Magnet die Spule meines SP. Das war eine wesentliche Erleichterung.“ Reparaturanfällig blieb die junge CI-Technik aber. Häufiger waren Kabel defekt, es gab Wackelkontakte… Und dann musste die CI-Pionierin Hanna Hermann erneut die 200 Kilometer zur MHH nach Hannover reisen.
Das entscheidende war jedoch, dass diese Technik ermöglichte, was sie ermöglichen sollte. Bei den Hörtests in Hannover wurde regelmäßig überprüft, wie gut Hanna Hermann mit ihrem Implantat-Ohr hört. Dabei wurde das Hören von Vokalen und von Konsonanten unterschieden. Und es wurde getestet, wie gut sie mit und ohne Absehen von den Lippen versteht. Kurz nach der OP verstand sie ohne Lippenabsehen 40 Prozent der Vokale richtig und gar keine Konsonanten. Mit Lippenabsehen verstand sie 95 Prozent der Vokale und 79 Prozent der Konsonanten. Anderthalb Jahre später verstand sie schon viel mehr: ohne Lippenabsehen 78 Prozent der Vokale und 71 Prozent der Konsonanten. Und als sie zusätzlich von den Lippen absah, verstand sie bei diesem Test alles.
PS 1: Die Fotos zum Teil 2 der Artikel-Serie über die CI-Pionierin Hanna Hermann zeigen einen Flugpionier. Der lag bis vor kurzem neben dem Taxi-Stand am Flughafen Tegel, und jetzt findet man ihn in der Eingangshalle des BER. Der Hörgräten-Blog hat so seine eigenen Bilder. Fotos von Personen gibt es hier nicht, höchstens Mal von historischen Personen. Wer wissen will, wie Hanna Hermann aussieht, findet sie zum Beispiel hier.
PS 2: Graeme Clark (der australische Professor) hat mir in einem Interview von seinem allerersten CI-Patienten erzählt. Er hieß Rod Saunders und hatte durch einen Unfall sein Gehör verloren. Professor Clark meinte, Rod wäre nicht nur ein Patient gewesen: „Er war wie ein Mitglied unseres Forscherteams. Er ging mit uns auf eine Reise ins Unbekannte. Ich hingegen wollte vor allem ein verantwortungsbewusster Arzt sein. Es war mir sehr wichtig, dass er mir vertraut. Also vereinbarten wir, dass ich ihm gegenüber ehrlich sein würde. Wir würden jeden Punkt miteinander abstimmen. Und er hatte jederzeit die Option, aus dem Projekt auszusteigen, wenn er es gewollt hätte.“
PS 3: Albrecht Ludwig Berblinger (der „Schneider von Ulm“) war übrigens auch kein Spinner. Heute weiß man, dass sein Flugapparat funktionierte. Außerdem hat er auch eine „Künstliche Fußmaschine“ erfunden – einen Vorläufer der heutigen Beinprothesen. Was zu einem Artikel, in dem es um Innenohrprothesen geht, ja ganz gut passt.