Das größte Musikinstrument der Welt (Teil 2)

Über die Glocken des „Langen Jan“ und über Anne Frank
alte Carillonglocken

Ich hatte schon über das Hören von Glocken und von Glockenspielen geschrieben. Die Carillons (also Glockenspiele) gab und gibt es vor allem in den Niederlanden und in Flandern – also dem Teil von Belgien, in dem ebenfalls Niederländisch gesprochen wird; und sie erfreuen dort vor allem auch die Touristen.

Das ist schon länger so. Als zum Beispiel Robert Louis Stevenson (der „Die Schatzinsel“ geschrieben hat) durch die Gegend gereist ist, war er ganz begeistert. Er war sonst nicht so für Städte und Kutschen zu haben und reiste daher auf den vielen Flüssen und Kanälen. Aber gehört hat er die Carillons damals auch dort:

Glockenzug

„Auf der anderen Seite des Tals wurde eine Gruppe von roten Dächern und ein Kirchturm zwischen den Blättern der Bäume sichtbar. Ein beseelter Spieler ließ den Nachmittag durch den Klang des Glockenspiels zu einem musikalischen Ereignis werden. Es lag etwas Süßes und Ergreifendes in der Luft, als er spielte. Noch nie, so dachten wir, hatten wir Glocken so verständlich sprechen, so melodiös singen gehört wie diese…“

Auf dem Turm der Westerkerk

Der Turm der Westerkerk in Amsterdam ist vermutlich noch berühmter als die Kirche selbst. Er steht zwischen Kaizers- und Prinzengracht, ist 87 Meter hoch und weithin zu sehen. Er hat mehrere Spitznamen – nämlich „der lange Jan“ und „der alte Wester“. Und er hat ein berühmtes Glockenspiel – mit heute 50 Glocken – sowie mehrere riesige Glocken für die Stunden, die halben Stunden und das normale Geläut. Die größte Glocke hängt im Turm ganz oben und sie ist fünf Tonnen schwer.

Zeichnung vom "langen Jan"

Ab April und während der Sommermonate kann man in kleinen Gruppen und durch sehr enge Stiegen den langen Jan hochsteigen. Man kommt zwar nicht ganz bis nach oben, wo das Glockenspiel ist, aber doch bis zur großen Aussichtsplattform. Und unterwegs sieht man auch, wo der Glockenspieler heute spielt. Immer dienstags gibt es vier Stunden Konzert mir dem Glockenspiel in der Westerkerk. Der Carilloneur vom „langen Jan“ spielt dann alles mögliche. Neben klassischen und eher traditionellen Stücken z. B. auch sehr gerne „Starway to Heaven“ von Led Zeppelin.

Ausblick vom langen Jan

Außerdem sieht man beim Aufstieg auch das ursprüngliche Glockenspiel, das über 300 Jahre lang vom Turm erklang und heute nur noch für die Turmbesucher angeschlagen wird. Und man sieht ein paar der großen Glocken sowie den sehr massiven, hölzernen Glockenstuhl, der sie trägt. Der Glockenstuhl steht im Turm ohne dessen Innenwand zu berühren. Denn sonst würden die Schwingungen der Glocken das Mauerwerk zerstören.

Glockenstuh Westerkerk

Oben, von der Aussichtsplattform hat man einen schwindelerregenden Blick über Amsterdam. Und man kann auch auf das Dach der Prinzengracht 263 blicken. Das ist das Haus, in dem sich Anne Frank und ihre Familie zwei Jahre und einen Monat lang vor den Nazis versteckt haben, bis sie schließlich verraten, in Konzentrationslager deportiert und fast alle umgebracht wurden.

Anne Frank und die Glocken

In der Zeit, in der sich Anne Frank im Hinterhaus versteckt hielt, waren die Turmglocken und das Glockenspiel im „langen Jan“ ein wichtiger Teil ihres Alltags… – Ich finde, man muss Schicksale wie das des jüdischen Mädchens Anne Frank erzählen, damit sie nicht vergessen werden – auch auf einem Blog, der das Hören mit und ohne Technik zum Thema hat. Ich stelle es mir grauenvoll vor, wenn man – so wie die Familie Frank – „illegal“ untertauchen und sich verstecken muss. Wenn man in ständiger Angst lebt, verraten und entdeckt zu werden. Wenn man jeden Moment mit dem Schlimmsten rechnen muss, jederzeit um sein Leben bangt, keinen Mucks von sich geben darf.

Denkmal für Anne Frank

Von 120.000 jüdischen Menschen, die von den Nazis deportiert wurden, überlebten nur 6.000. Wie es den Menschen ging, die sich damals vor den Nazis verstecken mussten, um vielleicht zu überleben, hat Anne Frank in ihrem Tagebuch geschrieben. Und das Läuten des „langen Jan“ kommt darin auch oft vor.

Das Geläut im Hinterhaus

In meinem Artikel über Glocken ging es u. a. darum, welche Bedeutung das Glockengeläut früher für die Menschen hatte. Dass es ihren Tag und ihr Leben einteilte. Und in der Isolation des Hinterhauses hatten sie diese Bedeutung auch – vermutlich viel mehr als für andere, die sich nicht verstecken mussten. Im Versteck war jede Art von Lärm lebensgefährlich. Und was von außen an Hörbarem zu den Untergetauchten drang, war abgesehen von ein paar Geräuschen aus den Lagerräumen, hinter denen sich das Versteck befand, nur das Läuten der Glocken.

Turmglocke im langen Jan - Foto zum Beitrag über das Glockenspiel in der Westerkerk

„Zu jeder Viertelstunde meldete sich das historische Glockenspiel, bei Tag und bei Nacht. Seine 37 Glocken gaben jedem Viertel seine eigene harmonische Identität. Eine kurze, helle Tonfolge zeigte das erste Viertel an, eine zweite – ähnlich und doch unverwechselbar anders – das dritte. Zur halben Stunde erklang eine ausführlichere Melodie, zur vollen die längste und tonreichste. Als wäre das nicht deutlich genug, hob zweimal stündlich nach dem Glockenspiel auch noch eine der großen Turmglocken an – um halb eine kleinere Glocke, zur vollen ertönten die tiefen, bedeutungsvollen Schläge der ältesten Uhrglocke der Westerkerk. All dies geschah automatisch, damals wie heute gelenkt von der strombetriebenen Spieltrommel. Jeden Samstag – und vermutlich ein weiteres Mal während der Woche – bestieg der Glockenspielmeister der Stadt den Turm der Westerkerk und musizierte auf dem Glockenspiel. Bekannte Lieder, von denen Anne einige aus der Schule gekannt haben muss.“

Anne Frank soll die einzige im Versteck gewesen sein, die die Glocken gerne hörte. Alle anderen mochten sie nicht. Wohl weil ihnen das Glockenläuten umso deutlicher machte, dass das Leben da draußen weiterlief, während man selbst nicht mehr tun konnte als abzuwarten, Zeit totzuschlagen und zu hoffen. Die einzige Ausnahme war das Läuten um 12:30 Uhr. Denn dann hatten die Arbeiter in den angrenzenden Lagerräumen anderthalb Stunden Mittagspause. Man konnte das Versteck öffnen, musste nicht mehr leise sein, konnte Besuch und Zeitungen empfangen, die Toilettenspülung benutzen.

Aber ansonsten hatte sich die ursprünglichen Bedeutungen von Glockengeläut – die Zugehörigkeit zu einem Ort, die gemeinsame Zeit und Ordnung, die Teilhabe an einer Gemeinschaft – im Erleben der Untergetauchten vermutlich ins ganze Gegenteil verkehrt.

Namen der Glöckner vom langen Jan - Foto zum Beitrag über das Glockenspiel in der Westerkerk

PS 1: Das lange Zitat und die Schilderungen zu Anne Frank und dem Glockenläuten habe ich in der Biografie „Das Mädchen Anne Frank“ von Melissa Müller gefunden.

PS 2: Die Fotos zum Artikel über das Glockenspiel in der Westerkerk stammen vom Aufstieg auf den Turm der Westerkerk. Die kleine Skulptur von Anne Frank steht gleich neben der Kirche. Anne Frank wäre am kommenden Mittwoch 90 Jahre alt geworden.


Vorheriger Beitrag
Das größte Musikinstrument der Welt (Teil 1)
Nächster Beitrag
Bilder vom Hören (Teil 1)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fill out this field
Fill out this field
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
You need to agree with the terms to proceed

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.

Mit unserem News­letter erhalten Sie regelmäßig Artikel, Geschichten und Neuigkeiten rund um das Hören mit und ohne Technik. Informationen zu den Inhalten, der Proto­kollierung Ihrer Anmeldung, dem Versand über den US-Anbieter MailChimp, der statistischen Aus­wertung sowie Ihren Ab­bestell­­möglichkeiten, erhalten Sie in unserer » Datenschutzerklärung

Neueste Beiträge

Kategorien