„Weit draußen im Meere ist das Wasser so blau, wie die Blätter der schönsten Kornblume, und so klar, wie das reinste Glas. Aber es ist sehr tief, tiefer, als irgendein Ankertau reicht; viele Kirchthürme müßten auf einander gestellt werden, um vom Boden bis über das Wasser zu reichen. Dort unten wohnt das Meervolk…“ – Auch im zweiten Teil dieses Artikels geht es um eine andere Welt – die Welt der kleinen Meerjungfrau, der es viel besser ergangen wäre, wenn sie und ihr Prinz die Gebärdensprache erlernt hätten. Gut, es hätte dann nicht diese traurige Geschichte gegeben. Aber die beiden hätten sich pausenlos gegenseitig ihre Liebe erklären können. Und das in einer Sprache, in der sie selbst unter den meisten Menschen ganz für sich gewesen wären. Wie mit einer Art Geheimsprache.
Vorteile geheimer Sprache
Es kann sehr praktisch sein, mit einer vertrauten Person in eine geheime Sprache wechseln zu können. Neulich erzählte mir eine junge Frau, dass sie das mit ihrem Mann immer macht. Beide hören mit Cochlea-Implantaten, können aber auch gebärden. Und wenn sie ungestört reden wollen, können sie das sozusagen immer und überall. Sogar an Orten, wo man eigentlich stumm sein muss. (Und sollte es ein sehr lauter Ort sein, könnten sie außerdem noch ihre Technik ausschalten.)
Ich war mal auf einer Ausstellungseröffnung. In der Ausstellung wurden Arbeiten aus einem Kunstprojekt vorgestellt, bei dem gut hörende, schwerhörige und gehörlose Kinder in einer Werkstatt zusammengearbeitet hatten. Zur Eröffnung kam dann die Bürgermeisterin und hielt eine lange Rede über ihre Stadt und über Inklusion. Die Kinder waren ebenfalls da und die Rede wurde simultan in Gebärdensprache übersetzt. Die Kinder, die gebärden konnten, waren klar im Vorteil. Sie mussten sich nicht langweilen. Sie konnten sich die ganze Zeit lustige Dinge über die Bürgermeisterin erzählen, ohne dass es groß auffiel.
Vermutlich denken die wenigsten Touristen, die in Kopenhagen nach der Meerjungfrau suchen, darüber nach, wie unglücklich sie war und warum. Es gibt verschiedene Erklärungen dafür, warum diese winzige, unscheinbare Plastik auf dem Felsblock am Hafenbecken so bekannt ist. Eine fand ich besonders einleuchtend:
In den 50er Jahren beschlossen die Dänen, den Tourismus nach Dänemark zu holen. Damals steckte das, was heute Tourismus heißt, noch in den Kinderschuhen. Die Westdeutschen fuhren an die Adria, und die Ostdeutschen fuhren an die Ostsee. Aber Dänemark…
Über Dänemark wussten die Leute eigentlich nichts. Der einzige Däne, der weltweit berühmt war, war der Märchenerzähler Hans-Christian Andersen. Also überlegten die Dänen, wie man Touristen aus aller Welt mit Hans-Christian Andersen nach Kopenhagen locken und ihnen dann das schöne Dänemark und die Stadt zeigen könnte. Es gab nur ein Problem: In ganz Kopenhagen existierte nichts, was mit dem Märchenerzähler zu tun hatte. Mit einer einzigen Ausnahme: dieser kleinen Bronzeskulptur.
Die kleine Meerjungfrau – Ellen oder Eline
Ihre Entstehung ist auch eine besondere Geschichte. Die Jungfrau wurde 1913 im Auftrag des Brauerei-Erbes Carl Jacobsen (dem von der Carlsberg-Brauerei) vom Bildhauer Edward Eriksen geschaffen. Es gibt ein Ballett von der kleinen Meerjungfrau. Jacobsen hatte das im Königlichen Theater gesehen – mit der berühmten Tänzerin Ellen Price. Und nun gibt es verschiedene Versionen der Geschichte. Angeblich hat Jacobsen Eriksen beauftragt, die Meerjungfrau nach dieser Tänzerin zu gestalten. Die hätte auch Modell gesessen – aber nur für den Kopf. Weil sie nicht für den nackten Oberkörper Modell sitzen wollte, hätte das dann Jacobsens Frau übernommen. – Völliger Unsinn, sagen dazu die Erben des Bildhauers Erikson. Das hätte Eline Eriksen, die Frau den Bildhauers, nämlich auf keinen Fall zugelassen. Für alle Frauenfiguren von ihm wäre sie allein das Modell gewesen. Wer recht hat, ist wohl noch nicht ganz geklärt. In jedem Fall sollen sich Eline und Ellen auf Fotos sehr ähnlich sehen.
In Amerika erlangte die Meerjungfrau dann Anfang der 50er Jahre durch einen Film Berühmtheit – der Film hieß auch „Hans Christian Andersen“. In dem singt Danny Kayehttps://de.wikipedia.org/wiki/Danny_Kaye das Lied „Wonderful, wonderful Copenhagen“, und die kleine Meerjungfrau ist zu sehen. Ob das von der dänischen Tourismusindustrie gesponsert wurde, kann ich nur vermuten. In jedem Fall ging die Rechnung auf, und die kleine Meerjungfrau ernährt seitdem die Souvenier-Verkäufer der Stadt…
Meerjungfrau und Freiheitsstatue
Ich bin in der DDR aufgewachsen. Von der kleinen Meerjungfrau hat man auch dort gehört. Aber die Meerjungfrau in Kopenhagen schien ungefähr so weit weg wie die Freiheitsstatue in New York oder Taj Mahal; also unerreichbar. Vermutlich erschien sie mir damals auch ungefähr genauso groß bzw. großartig.
In New York war ich bis heute nicht, bei Taj Mahal auch nicht. Aber kurz nachdem die Mauer fiel, konnte man für wenig Geld (sogar für DDR-Mark) mit dem Nachtzug von Berlin-Ostbahnhof über Warnemünde bis Kopenhagen. Die Überfahrt mit der Fähre war toll. Das Fährschiff hieß wie ein dänischer Prinz, und als die Sonne aufging, stand ich auf dem Deck, der Wind war stark und kalt und der Streifen Land am Horizont mit dem blutroten Licht darüber hatte was von Hamlet.
Vor Aufregung bekam ich die Nacht kein Auge zu und fand mich am Morgen übermüdet vor dem Bahnhof einer Stadt, von der ich eigentlich nicht mehr wusste, als dass es irgendwo diese kleine Meerjungfrau geben muss. Mein Geld reichte ungefähr für drei Hotdogs mit Zwiebeln, die ich aber nicht brauchte, weil man in der DDR sowieso gewohnt war, was zu Essen mitzunehmen, wenn man ins Ausland fuhr.
Die kleine Meerjungfrau und ich
Ich lief also durch einen tristen Morgen und durch diese fremde Stadt bis zu dem Punkt, an dem auf dem Plan der Bahnhofsinfo The Little Mermaid eingezeichnet war. Das war ziemlich weit, und ich hätte sie fast übersehen, weil sie so klein ist. Doch dann hockte sie da vor mir auf dem Stein. Die Meerjungfrau, die so unerreichbar gewesen war, war jetzt nur eine kleine, stumme Plastik, die ins Irgendwo starrt. Sonst kein Mensch weit und breit. Nur das Glucksen des schwarzen Wassers, weiter weg der Klangteppich der morgendlichen Stadt.
Bald darauf kam die Sonne vor. Nicht weit von der Meerjungfrau gab es eine Bank. Auf der schlief ich ein und bin irgendwann mittags wieder aufgewacht. Ich lief noch ein paar Stunden durch Kopenhagen und dann ging der Zug zurück.
Tourismus und Sprachlosigkeit
Falls du Kopenhagen nicht kennst und nun denkst, dass der Platz bei der kleinen Meerjungfrau immer noch so ein ruhiger bzw. verschlafener Ort ist, an dem man nicht viel mehr hört, als das glucksende Hafenwasser, muss ich dich enttäuschen. Als ich vor ein paar Jahren noch mal da war, sah alles ganz anders aus.
Die kleine Meerjungfrau saß immer noch einsam auf ihrem Felsen. Aber jenseits der paar Meter Wasser, die wie eine Art Schutzzone wirkten, standen hunderte Touristen mit Kameras und Smartphones, alle erpicht auf den ultimativen Schnappschuss mit The Little Mermaid. Die Szenerie erinnerte an einen Fototermin mit rotem Teppich. Hier der kleine, zerbrechlich wirkende Star. Und auf der anderen Seite die Meute der Fotografen. Klar, es ist absurd, selbst Tourist zu sein, und sich darüber aufzuregen, dass es zu viele Touristen gibt. Aber ein Moment der Sprachlosigkeit war es doch. Bleiben wollte ich auch nicht mehr.
Vielleicht ist das ja ein Grund, warum manche Dänen – im Unterschied zum Rest der Welt – Den lille Havfrue überhaupt nicht mögen. Es gab bisher zwei Enthauptungen. Ihr wurde einmal der Arm abgesägt. Sie wurde mit Farbe besprüht, mit einer Burka und mit einem Plastik-Penis behängt, einmal sogar komplett gesprengt. Aber man hat sie immer wieder repariert. Sie ist immer noch das Original.
PS 1: So richtig viel über Gebärdensprache gab es in diesem Teil des Artikels nicht. Aber ich will demnächst noch mehr über das Thema schreiben. Ein interessantes Interview habe ich dafür auch schon geführt. Und über Dänemark bzw. die Dänen und das Hören mit Technik muss ich irgendwann auch noch schreiben…
PS 2: Die Fotos zeigen weiter kleine Meerjungfrauen aus Kopenhagen.