Fast wie in einem Traum: Ein Sonntagnachmittag in Mechelen. Zwischen den roten Backsteinbauten im alten Kern des flämischen Städtchens ist die Luft glasklar und kalt. Es ist Mitte November. Der blaue Himmel spiegelt sich im glatten Wasser des Flüsschens Dijle. Kaum ein Passant ist unterwegs. Schritte verhallen auf dem alten Pflaster. Große sonntägliche Stille. Und dann, plötzlich hebt es an, das Schlagen. Ein alles durchdringender Klang. Das Carillon, das Glockenspiel von Mechelen, hoch oben im Turm der Kathedrale St. Rombouts. Das Spiel der 49 Glocken erfüllt den Raum mit einem sphärischen Klang, der sich weit über den Ort ergießt und erst nach Stunden wieder verebbt.
Nur 20 Fahrtminuten ist Mechelen von der europäischen Hauptstadt Brüssel entfernt – eine Stadt der Renaissance mit hunderten historischen Gebäuden und ganzen vier Einträgen auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes. Zu den Attraktionen der Stadt gehört auf jeden Fall die Königliche Glockenspielschule, an der seit fast 100 Jahren Glockenspieler, die so genannten Carilloneurs, ausgebildet werden.
Wer schon mal in den Niederlanden oder im flämischen Teil von Belgien war, der kann auch heute noch an vielen Orten Glockenspiele hören – und wird sie dort kaum verpassen können. Es gibt auch noch andere Orte mit Carillons. Aber eigentlich stammen sie aus dieser Gegend. Und Mechelen ist die Hauptstadt des Glockenspiels.
Glocken und Carillons
Über das Geläut von Kirchenglocken hatte ich ja schon an anderer Stelle gebloggt. Aber Glockenspiele sind noch mal was ganz anderes. Man braucht dafür auch spezielle Musik-Glocken.
Raymond Murray Schafer beschreibt, wie sich der Schall der Glocken durch den weiten Abstand zum Hörer noch verändert, dass er z. B. von Windströmen oder vom Wasser noch weiter geformt wird. Die Glocken seien wie ein entfernter Hügel, der „in blaugrauen Nebel eingehüllt ist“.
Im Prinzip sind Carillons riesige Freiluftorgeln. Und sie sind die wahrscheinlich größten Musikinstrumente der Welt. Man spielt sie mit Füßen und Fäusten. Die Holzhebel, die in zwei Reihen übereinander liegen, werden wie bei einer Orgeltatstatur angeschlagen, mal sanft und mal kraftvoller nach unten gedrückt. Jeder Hebel ist mit dem Klöppel einer Glocke verbunden. Die Füße treten die Pedale. Und der Oberkörper muss auch mitspielen. Ein Carilloneur bzw. eine Carilloneurin muss beim Spielen immer hin und her schwingen. Nur so kommen sie nämlich an sämtliche Hebel der Klaviatur. Man braucht also ziemlich viel Körpereinsatz. Es soll aber weniger anstrengend sein als die hunderten Treppen-Stufen hinauf in die Glockenspielstube zu steigen.
Die 49 Glocken von St. Rombouts sind zwischen acht Kilo und acht Tonnen schwer. Und sie reichen über vier Oktaven. Ein Klavier hat mehr; besondere Flügel haben bis zu acht volle Oktaven. Aber auch mit vier Oktaven kann man alles Mögliche spielen, also auch Mozart, Beethoven, Lady Gaga. – Und man hat garantiert jede Menge Zuhörer.
Im Prinzip wie ein Radio
Ganz so vielfältig war das Repertoire früher sicherlich nicht. Aber im Prinzip funktionierten Glockenspiele wie ein Vorläufer des Radios. Als der Musiker Charles Burney im 18. Jahrhunder durch Europa reiste, schrieb er über die Glockenspiele: „Der große Vorteil dieser Art von Musik ist, dass sie die Einwohner einer ganzen Stadt unterhält, während diese sich nirgendwohin bemühen müssen, um sie zu hören.“
Und wie gesagt: In Mechelen kann man sich sogar als Glockenspieler*in ausbilden lassen. Es gibt seit fast 100 Jahren die Königliche Glockenspielschule, in der Student*innen aus der ganzen Welt lernen. Der Beruf scheint also Zukunft zu haben. Weil die Leute Glockenspiele offensichtlich auch heute noch mögen.
„Puple Haze“ über Mechelen
Im Glockenspiel-Museum, das es in Mechelen gibt, war ich leider noch nicht. Aber ich bin die über 300 Stufen bis zur Glockenspieler-Stube hoch gestiegen. Und ich konnte mich anschließend mit Richard darüber austauschen, wegen dem ich eigentlich nach Mechelen gekommen war. Richard ist ein ertaubter Rockmusiker aus den USA, der seit langem mit Cochlea-Implantaten hört – und der dank der Hörimplantate wieder als Musiker arbeiten kann. Über ihn hatte ich schon in meiner Artikel-Serie über Beethovens Schwerhörigkeit geschrieben. In Mechelen hatte ich ihn für ein langes Interview getroffen. Und in dem hat er mir von seinem Erlebnis mit dem Glockenspiel von Mechelen erzählt:
„Einmal stieg ich mit einer Führung die 300 Stufen in den Glockenturm hinauf, immer hinter einer Spanierin her, die riesige Absätze hatte. Oben angekommen fragte uns der Guide, ob jemand das Carillon spielen will. Man spielt es mit Hebeln. Ich sah aber gleich, dass die Anordnung nicht anders ist als bei einem Keyboard. Und außerdem wusste ich, dass es eine sehr lange Dissonanz gibt, wenn man die Glocken zu knapp hintereinander spielt.“
„Also“, so Richard weiter, „nahm ich Platz und spielte erst was von Mark Cutler, einem Singer-Songwriter aus Providence, mit dem ich öfter auf der Bühne stand. Und danach noch “Purple Haze” von Jimi Hendrix. – Naja, ich hatte schon etwas Angst, dass die ganze Kathedrale über uns einstürzen könnte, wenn ich so eine Teufelsmusik spiele. Es klang etwas schauerlich, bedrohlich. Aber es war toll, auf diesem grandiosen Instrument zu spielen und zu wissen, dass jeder in der Stadt mich hören kann.“
PS: Die Fotos zum Artikel über das Glockenspiel von Mechelen zeigen zum einen den großen Glockenturm von der Kathedrale St. Rombouts. (Er ist so groß, dass er kaum aufs Bild gepasst hat. Eigentlich sollte er mal der größte Turm der Welt werden. Aber dann ging den Bauherren das Geld aus.) Die anderen Fotos sind aus Amsterdam, das Carillon und die Glocken aus dem Turm der Westerkerk. Um die geht es dann noch im zweiten Teil des Artikels.
2 Kommentare. Leave new
Wunderbar farbig geschriebener Blogartikel, der Klangteppich, der durch das Glockenspiel erzeugt, wird sinnlich und sehr ästhetisch fassbar.
Herzlichen Dank!
Danke auch für die schöne Rückmeldung. Das freut mich sehr.