Manchmal ist die Welt klein – auch online. Man schickt die Hörgräte einmal quer durch die unendlichen Weiten der allwissenden Müllhalde Marjorie Google, damit sie sich nach einer Sache erkundigt. Und dann landet sie am Ende ihrer Suche direkt vor der eigenen Haustür… – Aber der Reihe nach:
Eigentlich ging es mir um das Wort „Schlitzohr“. Und um die Frage, ob es gut oder schlecht ist, ein Schlitzohr zu sein. Würdest du dich daran stören, wenn dich jemand so nennt? Schlitzohr klingt schließlich gar nicht so schlecht, irgendwie clever. Vermutlich ist entscheidend, von wem man für was und unter welchen Umständen als Schlitzohr eingestuft wird?
Ich habe die Hörgräte auf die Suche nach dem Schlitzohr geschickt. Gleich am Anfang fand sie heraus, dass ein Schlitzohr ein gerissener, schlauer, gewiefter, durchtriebener, listiger Mensch ist. Und bald darauf stieß sie auf Vermutungen, woher dieses Wort kommt. Am überzeugendsten finden wir eine Erklärung, die ungefähr 120 Jahre alt ist. Damals gab es das Wort also mit Sicherheit schon. Und es wurde für Wandergesellen – also für wandernde Handwerker – benutzt, die etwas ausgefressen hatten.
Rausgerissener Ohrring, Teufel oder Maikäfer
Die wandernden Handwerker sollen damals alle einen goldenen Ohrring mit dem Wappen ihres Handwerks getragen haben. Dieser Ring wurde nur im Notfall verkauft, denn er war so eine Art Bestattungsvorsorge; d. h. wenn der Handwerker gestorben ist, wurde seine Beerdigung mit dem Ohrring bezahlt. Davon abgesehen gab es noch eine Möglichkeit, wie man den Ring loswerden konnte: Wenn man was ausgefressen hatte, haben einem die anderen Wandergesellen den Ring einfach rausgerissen. Das tat vermutlich ziemlich weh und man blieb für den Rest seines Lebens ein Schlitzohr.
Andere Erklärungen gehen davon aus, dass auch im Mittelalter schon Ohren geschlitzt wurden – bei kleineren Ganoven. Im Mittelalter wurden schließlich auch Ohren, Nasen und sonst was abgeschnitten und alle möglichen grauseligen Dinge getan. Also, warum sollte man damals nicht schon auf die Idee gekommen sein, Ohren zu schlitzen – sozusagen als eine Art mildere Strafe?! Zudem soll der Teufel geschlitzte Ohren haben. Und der ist ja zuständig für Böses, vor allem im Mittelalter.
Aber diese Theorie finde ich weniger überzeugend als die andere. Zumal die großen Worte-Sammler Jakob und Wilhelm Grimm vor ungefähr 200 Jahren zwar schon Schlitzaugen, Schlitzhusaren, Schlitzhengste, Schlitzmäntel, Schlitzschnecken und sonst was für geschlitztes Zeug gefunden haben, aber eben kein Schlitzohr. Sie kannten lediglich ein Schlitzöhrchen bzw. Schlitzöhrlein. Das war im thüringischen Ort Grabfeld damals die Bezeichnung für Maikäferlarven. Und im unterfränkischen Mellrichstadt war Schlitzöhrchen der Name für einen Wassergeist bzw. Wassernix – ein Zusammenhang, der der Hörgräte als einem Gräten-Wasser-Wesen ganz besonders zusagte.
Kurze Filmgeschichte der Schlitzohren
Wir können festhalten, dass Hörgräten-Mission Schlitzohr zu keinem sicheren, abschließenden Ergebnis kam. Und ich schließe mich der Theorie vom rausgerissenen Ohrring an. Wenn die stimmt, könnte das bedeuten, dass das Wort Schlitzohr heute besser dasteht als damals. So ein geschlitzter Handwerker war vermutlich arm dran. Keiner wollte mehr mit ihm zu tun haben, und ihm blieb nicht mal das Geld für den Friedhof…
Andererseits brachte die Hörgräte von ihrer Recherche jede Menge Belege von ausgekochten, cleveren, coolen und irgendwie sympathischen Schlitzohr-Typen mit: Burt Reynolds in „Ein ausgekochtes Schlitzohr“, „Ein ausgekochtes Schlitzohr schlägt wieder zu“, „Das ausgekochte Schlitzohr ist wieder auf Achse“; Louise de Funès in „Louise, das Schlitzohr“; „Robin Hood, Schlitzohr von Sherwood“, „Das Schlitzohr“ mit Alfred Lynch und Sean Connery, „Das Schlitzohr und die Feuerbiene” mit Franco Nero und Eli Wallach; „Schlitzohr und Schlitzauge, der Dampfhammer von Send-Ling“ – ein Film über Kung-Fu-Fighter, der auch noch als „Das Schlitzohr mit dem Dampfhammer“ zu finden ist (Untertitel „Wo er hinlangt, gibt es heiße Ohren“.)… – Es gibt eine regelrechte Filmgeschichte der Schlitzohren. Außerdem gibt es noch Schlitzohr-Bücher und Schlitzohr-Theaterstücke, zum Beispiel das Stück „Das Schlitzohr von Köpenick“.
Das Schlitzohr von Köpenick
Dass die Hörgräte auch ein Köpenicker Schlitzohr aufgespießt hatte, ließ mich zu dem (eingangs geäußerten) Schluss kommen, die weltweite Google-Müllhalde sei auch nur ein Dorf. Schließlich lebe ich in Berlin-Köpenick, konnte jedoch mit einem hiesigen Schlitzohr im ersten Moment nichts anfangen. Im zweiten Moment war klar, dass es sich beim Stück vom Köpenicker Schlitzohr nur um Schuster Voigt drehen konnte, der sich vor ungefähr 110 Jahren eine alte Hauptmannsuniform anzog, um so ins Rathaus einzuziehen. Alle waren von der Uniform derart beeindruckt, dass der arme Schuster einfach den Bürgermeister verhaften lassen und die Stadtkasse mitnehmen konnte. Anschließend amüsierte sich die ganze Welt über den schlitzohrigen Hauptmann, der den Preußenstaat vorgeführt und den blinden Gehorsam seiner Untertanen durch den Kakao gezogen hatte.
Ehrlich gesagt, ich finde es ok, in einem Ort (bzw. in einem Kiez) zu leben, der (bzw. das) vor allem für ein ausgekochtes und einfallsreiches Schlitzohr wie den Hauptmann bekannt ist.
Der Hauptmann belegt einmal mehr, dass es gar nicht so schlecht ist, ein Schlitzohr zu sein. Vermutlich ist das Wort “Schlitzohr” im Laufe der 120 Jahre auch einfach besser geworden, als es anfangs gemeint war. Das kommt bei Worten häufiger vor. Ich denke z. B., dass das Wort “Hörgerät” langsam aber sicher auch besser daherkommt als früher. Das ist ein zentrales Anliegen dieses Blogs. Darüber mehr in anderen Beiträgen.
PS: Um hier keine Bilder von geschlitzten Ohren einzustellen, beschränke ich mich auf Bilder zum Hauptmann. Zu sehen ist ein Stück vom Köpenicker Rathaus, aus dem der Schuster Voigt damals die Kasse geraubt hat, außerdem der Hauptmann vor dem Rathaus, ein Graffiti (eigentlich ein Graffito) in der Köpenicker Altstadt, ein weiteres Graffiti von einem Schaufenster-Rollo in der Köpenicker Bahnhofstraße und ein Aufkleber mit Hauptmann (dem Gesicht aus seiner Polizeiakte) von unserem eisernen Köpenicker Fußballverein; auch zu Letzterem folgt bei Gelegenheit mal eine Hör-Geschichte. Die letzten zwei Bilder stammen von der „Hauptmann-Zelle“, die du in der Köpenicker Altstadt, Freiheit 15 finden kannst, wenn du ein bisschen suchst… Weitere Informationen für Berlin-Touristen mit Interesse an Köpenicker Schlitzohren gibt’s beim Tourismusverein Berlin Treptow-Köpenick (für den wir hier für lau Werbung machen).