Hören und Gehirn? Wie das, was wir Hören, durch Ohrmuschel und Gehörgang bis ins Mittelohr und weiter ins Innenohr gelangt, das hatte ich bereits auf der ersten, zweiten und dritten Exkursion ins Ohr beschrieben. Vom Innenohr, das so groß wie eine Erbse und so gewunden wie eine kleine Schnecke ist, gehen die Schall-Schwingungen als Sinnesreize an den Hörnerv und weiter zum Gehirn. Und dann?
Wer denkt schon darüber nach, wie Hören geht?! Wer hören kann, hört – und gut ist. In aller Regel wollen wir, dass Sachen funktionieren. Verstehen müssen wir sie dafür nicht. Und wenn doch, dann gibt es einen Blog (wie diesen).
Stöckchen und See
Ein hübsches Bild, mit dem sich anschaulich machen lässt, was unser Hörorgan leistet: Beim Hören geht es immer um Schall und Wellen. Stell dir einen See vor. Kein Ufer, keinen Wald oder was auch immer um einen See drum herum sein könnte – nur diesen See an sich. Er ist ziemlich groß. Gar nicht weit weg schwimmen Enten. Dann ein Schwan, badende Kinder, weit draußen zwei Segelboote. Und der ganze See Wellen. Und die Enten, der Schwan, die Kinder, die Boote erzeugen durch ihre Bewegungen ebenfalls Wellen.
Und jetzt kommt dein Gehör ins Spiel. Dein Gehör ist ungefähr wie ein kleiner Stock, der auf den Wellen treibt. Er schwingt auf und ab von den Wellen. Von den Wellen, die der See als See macht, aber auch von den Wellen, die von Enten, Schwan, Kindern und Booten kommen. Das Stöckchen tanzt auf den Wellen und nimmt durch die verschiedenen Schwingungen all das wahr – also See, Enten, Schwan, Kinder, Boote.
Nerven und Knoten
Wie so was überhaupt möglich ist? Weiß noch keiner so genau. In den Schneckenwindungen des Innenohrs sitzen 3.500 kleine Haarzellen, die die Schallschwingungen aus der Innenohrflüssigkeit aufnehmen. Und es gibt 30.000 Hörnerven. Die gehen aber nicht direkt zum Gehirn, sondern erst einmal zu Nervenknoten. In den Knoten laufen die Nerven beider Ohren zusammen.
Sie verbinden die Nerven aber nicht nur. Sie können das, was über die Nerven kommt, auch analysieren. Die Knoten ermitteln z. B. unterschiedliche Tonhöhen. Sie stellen wahrscheinlich auch fest, dass die Schwingungen an einem Ohr einen winzigen Moment eher eintreffen als am anderen. Oder dass diese Schwingungen an einem Ohr ein winziges bisschen lauter sind als am anderen. Diese kleinen Unterschiede machen es möglich, dass man Klänge nicht nur hören, sondern auch orten kann.
Und die Knoten senden das, was sie herausgefunden haben, nicht nur in Richtung Gehirn. Einige senden auch in Richtung Ohr, also zu den Haarzellen. Man stellt sich vor, dass sie den Haarzellen Anweisungen geben: „Konzentriert euch beim Schwingen mal lieber auf diese badenden Kinder! Der Schwan und die Enten sind derzeit völlig egal…“ – Das würde erklären, wie wir es schaffen, uns in einer Fülle von Stimmen und Geräuschen genau auf das zu konzentrieren, was uns aktuell interessiert.
Sprache und Musik
Das, was die Knoten herausgefunden haben, kommt am Ende alles ins Gehirn – und zwar in den Teil, der für das Hören verantwortlich ist. Wo dieses Hörzentrum liegt, weiß man inzwischen – im Schläfenlappen und unterhalb der Hirnfurche.
Es gibt bildgebende Verfahren, mit denen man sichtbar machen kann, wie das Gehirn arbeitet, wenn gehört wird. Und man weiß, dass es unterschiedliche Bereiche sind – je nachdem, was man hört. Schall-Schwingungen von Sprache sprechen einen anderen Gehirnbereich an als die Schwingungen von Musik.
Kommt Sprache, wird vor allem die linke Hirnhälfte aktiv. Dort geht es ums Verstehen. Die Musik-Wellen landen hingegen vorrangig in der rechten Hälfte. Hier geht es mehr um Gefühl. Aber so leicht lässt sich das vermutlich gar nicht trennen. Es gibt ja auch Sprachen, die sehr nach Musik klingen, und Musik, die mehr vom dazugehörigen Text lebt.
Hören und Denken
Sich vorzustellen, wie das mit dem See, den verschiedenen Wellen und dem Gehör-Stöckchen tatsächlich funktioniert, finde ich schwer. Ungefähr so schwer, wie mir Unendlichkeit vorzustellen. Gut vorstellen kann ich mir hingegen, dass die 30.000 Nerven und die Knoten eine Verbindung zwischen Hören, Denken und Empfindungen herstellen.
Denken kann ich mir nur in Form von Sprache vorstellen. Welche andere Form sollten Gedanken haben als die von Worten? (Zahlen sind ja eigentlich auch Worte.) Versuche mal, wortlose Gedanken zu fassen. Ich glaube, das funktioniert nicht. Du brauchst Sprache, um zu denken.
Sprache und Sinne
Musst du hören können, um zu denken? Ganz klares Nein! Du kannst Sprache genauso gut mit anderen Sinnen in dein Hirn bekommen, wenn du sie verstehst. Wer Gebärdensprache versteht oder vom Lippenbild absehen kann, nimmt Sprache über die Augen wahr. Und wer z. B. Brailleschrift oder das Lorm-Alphabet kann, erfährt Sprache über den Tastsinn. Wenn man sie uns beibringt, können wir Sprache über verschiedene Sinne erlernen und nutzen. (Versuche mir gerade eine Sprache vorzustellen, die man riechen oder schmecken kann.)
Ganz entscheidend für das Denken ist jedoch, dass du überhaupt eine Sprache hast, sie verstehst und immer wieder benutzt. Es ist nicht so lange her, dass man Menschen, die nicht hören konnten, einfach für dumm hielt. Das deutsche Wort „doof“ und das englische „deaf“ sind eng mit einander verwand. Auch in anderen Sprachen finden sich solche Verwandtschaften. Sie zeigen, wie die Leute früher über taube Menschen dachten. Dabei ist niemand doof, nur weil er nicht hören kann. Doof wird man hingegen gemacht – wenn man keine Sprache bekommt, in der man denken könnte. Wenn man also ohne Sprache ist bzw. stumm. Deshalb ist es übrigens auch völlig daneben, von einem tauben bzw. gehörlosen Menschen zu sagen, er sei stumm.
Sprache verlieren
Auswirkungen auf das Denken hat es auch, wenn man den Kontakt zur angestammten Sprache verliert, weil ein Sinn nachlässt. Weil das Gehirn dann nicht mehr bekommt, was es an Input braucht. Und weil man eine Sprache auch verlernen kann, wenn man sie nicht oder kaum noch benutzt. Eine Reihe neuerer Untersuchungen zeigen z. B., dass es einen Zusammenhang zwischen nachlassendem Gehör und einer frühzeitigen Demenz-Erkrankung gibt. Aber das ist ein Thema für einen extra Beitrag.
PS: Die Fotos zum Beitrag über Hören und Gehirn zeigen eine Installation mit dem Titel „A.N.N.“ der Künstler-Gruppe Koros Design vom Amsterdam Light Festival 2018-2019. „A.N.N.“ steht für „artificial neural network“ und die Installation visualisierte mit wandelndem Licht den Prozess von Hirnaktivitäten. Das Licht folgt einer Software, die ähnlich einem Gehirn Informationen empfängt, interpretiert, verarbeitet und weiterleitet.