Wenn wir Sprache hören, hören wir nicht nur Worte, die wir dann mehr oder weniger verstehen. Wir hören auch, wie gesprochen wird. Stell dir vor, du sitzt in einem Restaurant, und direkt in deinem Rücken sitzt ein Paar aus China, Italien oder Marokko und unterhält sich mit einander. Auch wenn du die Sprachen nicht sprichst und sie nicht einmal ansiehst; wenn du ihnen zuhörst, wirst du eine ganze Menge erfahren – durch die Art und Weise bzw. die Wirkung des Sprechens.
Wie sind die beiden gelaunt? Sind sie guter Dinge, gelangweilt, müde, gereizt? Diskutieren sie gerade ein Problem? Haben sie dieses Problem mit einander oder einfach nur so? Wie gut verstehen sie sich? Wer redet mehr oder hört zu oder lässt den anderen gar nicht zu Wort kommen? – Antworten auf solche Fragen könntest du auch dann finden, wenn du kein einziges Wort der anderen Sprache verstehst. Irrtümer wären nicht ganz ausgeschlossen, weil es gewisse kulturelle Unterschiede gibt; eine leichte Meinungsverschiedenheit auf Italienisch z. B. etwas dramatischer auf dich wirken könnte, als du es gewohnt bist. Aber das ist relativ.
Stimme und Sprechen
Geht es um die Wirkung des Sprechens, muss man grundsätzliche zwei Dinge unterscheiden. – Zum einen die Stimme. Stimmen unterscheiden sich zum Beispiel durch ihren Klang, durch die Tonhöhe und die Melodie von Sätzen. Neben der Stimme zählt die Sprechweise. – Mit welcher Geschwindigkeit wird gesprochen. Wie genau wird artikuliert. Wie ist der Rhythmus des Sprechens und welche Pausen werden beim Sprechen gemacht.
Sprechen ist also nicht gleich Worte. Es gibt zich Faktoren, die das, was man sagt, prägen. Das kann sehr bewusst geschehen, z. B. bei guten Schauspielern, Verkäufern oder Politikern. (Die deshalb noch längst keine guten Menschen sein müssen; mitunter sind sie sogar das ganze Gegenteil von gut.)
In den meisten Fällen wirken die Faktoren des Sprechens aber völlig unterbewusst. Sie teilen etwas über uns mit, was wir vielleicht gar nicht mitteilen wollen. Und es kann sein, dass unseren Zuhörern dieses etwas gar nicht auffällt, weil sie z. B. unkonzentriert oder einfach keine geübten Zuhörer sind. Aber wenn sie konzentriert und geübt sind, dann erfahren sie mehr, als wir ihnen sagen wollten.
Das Buch auf dem Tisch
Ein Beispiel: Nehmen wir den Satz „Das Buch liegt dort auf dem Tisch.“ Dieser Satz ist für sich genommen völlig neutral. Er tut keinem weh. Er transportiert als Satz an sich keinerlei Emotionen. Du erfährst einfach nur, wo das Buch liegt. Aber nun stell dir vor, dass du diesem Satz ein Gefühl einhauchst. Sei es nun, weil du ein gewisses schauspielerisches Talent hast, oder auch, weil dieses Gefühl gerade in dir steckt. Du könntest voller unbändiger Freude hervorstoßen: „Das Buch liegt dort auf dem Tisch.“ Oder du sagst den Satz und bist zu Tode betrübt oder ängstlich oder verärgert.
Bei jeder dieser Varianten wird die Art, wie du sprichst und dich für andere anhörst, deutlich anders sein. Bestimmte Faktoren deines Sprechens ändern sich. Und diese Faktoren sind – ganz unabhängig von der Sprache – bei allen Menschen gleich, zumindest in ihrer Basis.
Sprechen ist ein Spiegel der Seele. – Das ist er vielleicht sogar noch mehr, als es die Augen bzw. das Gesicht eines Menschen sind. Nur das man in diesen Sprech-Spiegel nicht hineinblicken kann. Man muss ihn hören.
Sprechen und Forschung
Ich finde, allein diese Tatsache ist Grund genug, dass Wissenschaftler*innen die Wirkung menschlichen Sprechens erforschen. Das geschieht in der Sprechwirkungsforschung. Und wenn du dich fragen solltest, wo bei so einer Forschung der praktische Nutzen sein soll…
Auf den werde ich an anderer Stelle noch ausführlich eingehen. Hier nur so viel: Wenn wir heute über künstliche Intelligenz sprechen, wenn wir davon reden, dass Maschinen uns immer besser verstehen, dann kommen wir genau zu diesem Punkt.
Es ist ein großer Unterschied, ob ich meinem kleinen Heim-Droiden einfach nur sage, dass das Buch dort auf dem Tisch liegt. Oder ob ich ihm das wütend, todunglücklich bzw. angstschlotternd mitteile. Im besten Fall wird R2-D2 auch diese emotionalen Dinge verstehen und in meinem Sinne nutzen. Im schlechtesten Fall wird er selbst den schlichten Satz mit dem Buch nicht mehr verstehen, weil sich mein Sprechen durch Wut oder Traurigkeit derart verändert hat, dass er die Worte nicht mehr erkennt. – Dass Maschinen Worte auch dann noch erkennen, wenn sie durch Gefühle gefärbt ausgesprochen werden, war eine enorme Herausforderung bei der Entwicklung von Systemen mit Sprachsteuerung.
Sprechwirkungsforschung
Wie Sprechwirkungsforscher*innen bei ihrer Arbeit vorgehen, erfuhr ich in einem langen Interview mit dem Sprechwirkungsforscher Professor Dr. Walter F. Sendlmeier vom Institut für Sprache und Kommunikation an der Technischen Universität Berlin.
Ich führe ständig interessante Interviews mit Leuten, die etwas über das Hören zu sagen haben. Aber dieses Interview gehört auf jeden Fall zu meinen Favoriten, und ich werde auch darauf noch zurückkommen. Hier nur noch was zur Arbeitsweise in der Sprechwirkungsforschung: Professor Sendlmeier hatte dafür eine Art „methodischen Dreiklang“ entwickelt.
Drei Schritte zur Wirkung des Sprechens
Im ersten Schritt wird ein bestimmtes lautsprachliches Ereignis einfach nur aufmerksam angehört. Man konzentriert sich nicht auf das Was, sondern auf das Wie des Gesprochenen. Man versucht, die Faktoren, die wir eingangs genannt hatten, so gut wie möglich herauszuhören. D. h. die Forscher*innen hören selbst sehr genau. Und sie befragen andere, also Testpersonen. Wie wirkt ein bestimmter Sprecher – z. B. ein Politiker bei einer bestimmten Rede. Ist das angenehm oder unangenehm, sympathisch oder unsympathisch usw. Die eigene Analyse und die Urteile der Testpersonen werden am Ende zusammengenommen.
Im zweiten Schritt wird das Gesprochene dann objektiv analysiert. D. h. es geht jetzt nicht mehr darum, wie jemand es erlebt. Sondern es geht darum, was sich mit Messtechnik am Schall dieser Stimme messen lässt. Da geht es dann z. B. um bestimmte Grundfrequenzen der Stimme. Die Sprechgeschwindigkeit wird gemessen. Es werden bestimmte Formen in der Betonung ermittelt. Gemessen wird aber auch die Stimmqualität. Ist sie stabil oder flattert sie, ist sie rau… Es gibt eine Vielzahl von Dingen, die sich objektiv messen lassen.
Schließlich werden im dritten Schritt der erste und der zweite Schritt zusammengebracht: „Wir suchen nach Korrelationen zwischen den Hörerurteilen und den akustischen Messungen. – Diesen methodischen Dreiklang setzen wir für unterschiedliche Fragestellungen ein. Einer unserer Schwerpunkte ist beispielsweise die Erforschung des emotionalen Ausdrucks in Stimme und Sprechweise. Wir fragen: Was ändert sich eigentlich, wenn wir etwas in unterschiedlichen emotionalen Zuständen sagen?“
PS: Die Fotos zum Beitrag über die Wirkung des Sprechens zeigen Emotionen – von gut gelaunt bis gar nicht gut gelaunt. Ein Graffito aus Berlin und zwei aus London, eine Königin hinter einer Autoscheibe und eine auf dem Straßenpflaster, einen grimmigen Terminator und einen traurigen Batman, einen Folterknecht, gemalt von Hieronymus Bosch, und ein Gesicht mit aufgerissenem Mund vom Theater Carré in Amsterdam. Gesichter mit ganz unterschiedlichen Emotionen – so verschieden wie die Wirkung des Sprechens.
2 Kommentare. Leave new
Sehr interessant und sicher lohnt es sich für jeden Menschen – egal was er beruflich macht – sich mit diesem Thema intensiv zu beschäftigen. Ist doch die Sprache eines unserer stärksten Ausdrucksmittel. Danke für diesen Beitrag.
Das freut mich. Danke für den Kommentar.