Bei unserer zweiten Expedition ins Ohr haben wir mit einem „Hallo!“ die Paukenhöhle durchquert. Am Trommelfell hatten wir uns in Schwingungen verwandelt. Die Schwingungen wurden von einem Gehörknöchelchen zum nächsten durchgereicht. Und so ging es quer durch das Mittelohr bis zu einem ovalen Fenster, das Ovales Fenster heißt.
Dieses Fenster ist komplett zu. Die Fußplatte des Steigbügel-Knöchelchens sitzt genau vor der ovalen Öffnung. Und diese Platte kann sich bewegen. Sie kann die Impulse, die von den Knöchelchen kommen, in das Innenohr leiten.
Das Innenohr sitzt hinter dem Fenster. Natürlich legt die Bezeichnung „Innenohr“ nahe, dass es auch in diesem Bereich ums Hören geht. Aber genau genommen sitzen hinter dem Ovalen Fenster gleich zwei Sachen: Zum einen die Hörschnecke; die ungefähr so groß wie eine Erbse ist, tatsächlich wie eine Schnecke aussieht und auch wirklich mit Hören zu tun hat. Und zum anderen befinden sich über der Schnecke drei Bögen bzw. Röhren. Die machen unser Gleichgewicht. Sie sorgen dafür, dass wir wissen, wo oben und unten ist.
Wir aber lassen die Bögen links liegen und bewegen uns in Richtung Schneckenerbse. Man nennt sie auch Hörschnecke oder Cochlea. Und wir nähern uns der Schnecke nun wieder in Wellen – also im Prinzip wieder so, wie auf unserer ersten Expedition durch den Gehörgang. Es gibt nur einen entscheidenden Unterschied: Unsere „Hallo!“-Welle schwingt jetzt nicht mehr durch die Luft, sondern in sowas wie Wasser.
Luft und Wasser
Es ist schwierig, Schall erst durch die Luft und dann durch Wasser zu übertragen. – Stell dir vor, du bist mit 1.000 anderen in einem Hallenbad. Es ist ziemlich laut. Du springst ins Wasser und tauchst plötzlich in eine völlig andere Hör-Welt. Sie ist nicht still, aber doch deutlich stiller. Weil Wasser die Geschrei-Wellen aus der Luft nicht aufnimmt. Also kannst du dort unten abschalten, bis du wieder Luft brauchst.
Das ist der Grund, warum sich die Natur das mit den drei Gehör-Knöchelchen ausgedacht hat. Eine ziemlich pfiffige Geschichte! Die Knöchelchen nehmen die Schallwellen über das Trommelfell auf – also aus der Luft. Dann übertragen sie die Schwingungen, verstärken sie sogar noch. Und schließlich pumpen sie die Schwingungen durch das ovale Fenster in die Flüssigkeit. – Wir schwingen jetzt sozusagen als flüssiges „Hallo!“ bis in die Windungen der kleinen Schnecke.
Auch die Schnecke ist mit Flüssigkeit gefüllt. Und auf ihren Innenwänden sitzen winzige Haarzellen. Die sehen ungefähr so aus wie die Borsten einer Zahnbürste. Und sie bewegen sich. Sobald so eine kleine Welle vom Ovalen Fenster daherkommt, bringt sie die Haarzellen in Bewegung.
Als flüssiges „Hallo!“ erreichen wir also die Haarzellen. Tausende kleiner Borsten kümmern sich darum, dass wir als „Hallo!“ aufgenommen, verstärkt und erneut umgewandelt werden. Die machen aus uns einen Nervenimpuls. Der geht durch den Hörnerv direkt ins Gehirn. Und was das Gehirn daraus macht, ist ein anderes Thema – und ein weites Feld, auf dem noch jede Menge geforscht wird.
Auf jeden Fall gelingt es dem Gehirn, aus den kleinen Impulsen was zu machen. Es erkennt Worte, Musik oder Hintergrundgeräusche. Und es kann noch viel mehr erkennen. Es kann die Betonung eines Wortes deuten. Es kann einen geraden Ton von einem schiefen unterscheiden. Es merkt ganz nebenbei, ob ein Geräusch, das von irgendwo kommt, wichtig ist oder nicht. Und es kann das Gehörte nicht nur denken, sondern auch fühlen.
Gehirnarbeit
Forscher schauen sich heute an, was in Gehirnen passiert, wenn sie hören. Sie haben herausgefunden, dass beim Hören von Musik oder von Sprache ganz verschiedene Bereiche im Gehirn arbeiten. Links kümmert sich das Gehirn offenbar mehr um das Verstehen von Wörtern. Musik hingegen wird eher auf der rechten Seite verarbeitet, weil es dort mehr um Gefühle geht. Es spricht also viel dafür, dass wir als „Hallo!“ nun in der linken Hälfte gelandet sind. Es sei denn, das „Hallo!“ wurde gesungen oder war auf andere Art besonders gefühlvoll.
Auf jeden Fall ist das der Endpunkt unserer dritten der drei Expeditionen ins Ohr. Wir könnten abschließend festhalten, dass man nicht nur mit den Ohren hört, sondern auch mit dem, was zwischen den Ohren ist. Und wir könnten festhalten, dass zwischen dem Ohrmuschelloch und dem Gehirn so einiges liegt: Gehörgang, Trommelfell, die drei Knöchelchen, das Ovale Fenster und die Schnecke mit den Härchen. Alle diese Sachen sind wichtig, wenn man was hören will. Der Weg, den das „Hallo!“ zurücklegt, kann an jeder dieser Stationen unterbrochen werden, und dann kommt nichts mehr an. Es ist zwar relativ selten, dass sich Leute Bohnen in die Ohren stecken und dann nichts mehr hören. Dafür kommt es umso häufiger vor, dass mit anderen Bereichen des Ohres etwas nicht stimmt.
Am anfälligsten sind diese kleinen Härchen in der Hörschnecke. Sie sehen nicht nur aus wie Zahnbürstenborsten. Sie nutzen sich auch genauso ab. Vielleicht nicht ganz so schnell. Aber wer Jahrzehnte lang jeden Tag gehört hat, bei dem sehen die Haarzellen schon sehr oft nach ausgelutschter Zahnbürste aus. Die Haarzellen sind platt. Sie bewegen sich kaum noch. Selbst wenn der andere sein „Hallo!“ schreit, klingt es dumpf – wie unter Wasser. Und das ist keine Krankheit. Das ist einfach der Lauf der Dinge.
Die gute Nachricht ist, dass es Technik gibt. Seit ein paar tausend Jahren sucht man nach Lösungen, mit denen man hören kann – schöner, besser, so natürlich wie möglich und sogar mit ausgegurkten Haarzellen. Und seit einigen, wenigen Jahren ist man dabei ein gutes Stück weitergekommen.
PS: Auf den Fotos siehst du eine sehr alte Schnecke aus dem Natural History Museum in London, Quallen vom Amsterdamer Light Festival, die nicht durch Wasser schweben, sondern durch Luft, und einen kleinen Geiger im Regen, dessen Spiel vermutlich eher die rechte Gehirnhälfte erreichen würde.
2 Kommentare. Leave new
Da muss man als angehender Akustiker mühevoll in der Berufsschule trocknen Anatomie Stoff büffeln 🙁
Hätten Sie das nicht eher verfassen können? 🙂
Herzlichen Dank für die Blumen! (Und die Hörgräte bekundet ihr tiefempfundenes Mitgefühl für die Büffelei.)