„Nicht mehr brüllt es, nicht mehr flüstert es, das Meer, das Meer…“ – Wie entsteht das, was wir hören? Ich finde, wenn man sich Wellen vorstellen soll, denkt man immer zuerst ans Meer. Mir zumindest geht es so. Wellen sind das, was über das Meer kommt und am Ufer brandet. Ein ständiges Auf und Ab. So wie in meinem Einstiegszitat. Das stammt aus einem kleinen Gedicht von Giuseppe Ungaretti. Wenn man sich das Gedicht vorliest, ist es auch ein ständiges Auf und Ab. Jede Zeile endet mit „das Meer, das Meer“ bzw. mit „il mare, il mare“. Auf Italienisch klingt das vielleicht sogar noch schöner. Aber ich kann kein Italienisch.
Dass Schall auch aus Wellen ist, weiß man natürlich, weil es einem irgendwann mal beigebracht wurde. Dennoch finde ich es schwierig, sich vorzustellen, dass Schall aus Wellen besteht. Man kann das Auf und Ab beim Schall eben nicht sehen. So, wie es überhaupt schwierig ist, Hören zu sehen. Denn wie sieht einer aus, der hört? Ich finde, sich das vorzustellen, ist verdammt schwierig. Menschen, die hören können, hören ja eigentlich immer – und meist ganz selbstverständlich nebenbei. Niemand schert sich darum. Also, wie soll man schon aussehen, wenn man etwas tut, was man immer und ganz nebenbei tut?
Meer und Hören
Bleiben wir besser beim Meer. Unser Gehör ist die Küste. Und das ewige Auf und Ab des Schall-Meeres langt dort an. Alle Worte, die Musik, die Geräusche sind Wellen, die an unserem Ohr branden. Solange das Gehör mitspielt, kommen die Schallwellen dort an, am Tag und in der Nacht. Im Unterschied zu anderen Sinnen – etwa auch dem Geruchssinn – bleibt der Hörsinn im Schlaf aktiv.
Gehörst du auch zu denjenigen Menschen, die an einem heißen Sommertag stundenlang bis über den Bauch im Wasser stehen und sich über immer noch größere Wellen freuen können? Auch große Schall-Wellen sind in der Lage, sehr positive Empfindungen auszulösen. Bei mir ist das jedenfalls so. Natürlich gibt es Grenzen – sowohl beim Meer als auch beim Schall. Zu groß sollten die Wellen nicht sein. Und auch wenn Empfindungen bei jedem etwas anders liegen; bei vielen Schall-Wellen ist unwahrscheinlich, dass sie positive Empfindungen auslösen oder überhaupt einen Nutzen für uns haben.
Ursprung jedes Schalls ist eine Schwingung. Stimmbänder, Gitarrensaiten, das Fell einer Trommel… – immer beginnt etwas zu schwingen. Auch wenn du einen Stapel Geschirr auf den Fußboden fallen lässt, schwingt was. Es klingt dann nur sehr speziell. Der Klang ist nicht so klar und geordnet wie bei einem Bogen, der sauber über eine Saite streicht; der Klang ist eher ein ziemliches Durcheinander.
Türen und Teilchen
Wie entsteht das, was wir hören? Denken wir uns zu den kleinen Teilchen, aus denen die Welt besteht. Geschieht etwas, was man hören kann, dann werden die kleinen Teilchen durch dieses Geschehen bewegt. Du wirfst einen Stein ins Wasser. Du klopfst an eine Tür oder drückst einen Klingelknopf. Du haust einen Nagel in die Wand. Jedes Mal werden Teilchen angestoßen, die wiederum ihre Nachbarteilchen anstoßen und immer so weiter.
Du schlägst eine Tür zu, und die Teilchen in der Tür schubsen sich jetzt eines nach dem anderen an. Jedes der Teilchen reicht dabei ein Stück von der Energie weiter, mit der du die Tür zugeschlagen hast. In der Welt der Teilchen erzeugt deine Energie eine Kettenreaktion – unter den Türteilchen, unter den Teilchen in der Türfassung und unter den Teilchen in der Luft drum herum. Je nachdem, wie groß der Türschwung war, bekommen die Wandteilchen, die um die Tür herum sind, auch noch was ab. Millionen Teilchen sind gerade damit beschäftigt, deine Energie durchzureichen. Und genau dieses Durchreichen ist die Schwingung. Die kann man dann hören. Wenn dein Türschwung groß genug war, hört man die Schwingung im ganzen Haus.
Wichtig ist, dass dafür nicht nur die Luftteilchen verantwortlich sind, sondern auch die Wandteilchen. Schall-Wellen breiten sich nämlich nicht nur in der Luft aus, sondern in so ziemlich jedem Stoff. Deshalb können wir nicht nur Schwingungen hören, die durch die Luftteilchen in unseren Gehörgängen kommen. Wir können zum Beispiel auch hören, wenn sich die Teilchen in unseren Knochen ihre Energie durchreichen. (Das gilt jetzt nicht nur für das unschöne Geräusch, das entsteht, wenn sich jemand den Arm bricht. Unsere Knochen können jeden Schall leiten – auch gesprochene Worte oder Musik. Es gibt sogar Hör-Technik, die voll auf diese Knochenleitung setzt.)
Wellen im Kopf
Kehren wir wieder zurück aus der Welt der Teilchen – und zu den Dingen, die man sehen kann: Treffen Wellen auf eine Wand, zum Beispiel auf die einer Steilküste, dann werden sie zurückgeworfen. Treffen Schall-Wellen auf eine Wand, passiert das auch. Wenn ich als Kind mit meinem Großvater an einer Bergwand vorbeikam, dann riefen wir: „Was essen die Studenten?“ Es kam dann ein „Enten“ als Echo zurück. Vermutlich rufen Großväter heute immer noch solche Dinge, wenn sie mit ihren Enkeln an Bergwänden vorbeikommen.
Anders sieht die Sache aus, wenn Wellen auf eine Wand treffen, in der ein Loch ist. Dann kriecht ein Teil der Energie durch dieses Loch – was natürlich wiederum an den Teilchen liegt. Und hinter dem Loch, also auf der anderen Seite der Wand, bilden sich neue Wellen. Genau so ist das auch bei Schall-Wellen, die an unserem Kopf ankommen und das Ohrloch finden. Sie breiten sich im Gehörgang aus und bringen dann das Trommelfell zum Schwingen.
Mehr zu all dem findest du in meinen Blog-Beiträgen über die erste, die zweite und die dritte Expedition in den Gehörgang und über Ohrmuscheln und Trichter.
PS: Die Wellen-Abbildungen in diesem Beitrag zeigen übrigens eine „Light Wave“ bzw. Lichtwelle, die die US-amerikanische Künstlerin Lauren Ewing für das Amsterdamer Light Festival 2017 gestaltet hat, außerdem Wellen in einem Brandenburger Feuchtgebiet sowie eine Wellenrutsche auf einem Berliner Spielplatz und ein auf dem Kopf stehendes Stück der Außenfassade vom ehemaligen Werk für Fernsehelektronik in Berlin-Oberschöneweide. (Oberschöneweide ist eine interessante Ecke, auch wenn die Berliner die Gegend gern Oberschweineöde nennen; dazu ein andermal mehr.)