Im zweiten Teil unserer Blog-Serie über das Aufwachsen mit eingeschränktem Gehör geht es um das Erlernen von Sprache. Und es geht um Helen Keller (1880 – 1968), denn sie konnte das Erlernen von Sprache sehr genau beschreiben. Sie war einerseits Schriftstellerin und andererseits schon als kleines Kind taubblind. Wahrscheinlich ist sie die berühmteste taubblinde Schriftstellerin und überhaupt der berühmteste taubblinde Mensch aller Zeiten.
Kant & Keller
Apropos berühmt – es gibt den berühmten Ausspruch, dass nicht sehen können von den Dingen trennt, nicht hören können aber von den Menschen. Häufig liest man, dass das ein Zitat des Philosophen Immanuel Kant ist. Aber auch Helen Keller soll das gesagt haben, und was wirklich stimmt, konnte ich noch nicht herausfinden.
Kant jedenfalls schreib in seinem Buch „Menschenkunde“ (1790/91): „Es fällt schwer, Taubgeborne sprechen zu lehren, und sie kommen nie zu solchen Begriffen, wie die, welche des Gehörs fähig sind, ob man gleich Unterrichtsanstalten für Taubstumme hat. Man findet dieses bei der Unterhaltung; denn alle Blinde, wenn sie alt sind, sind immer vergnügt und beredt; alle Leute aber, die taub sind, sind stets mißtrauisch und niedergeschlagen.“
Taub, blind, stumm
Auf jeden Fall wusste Helen Keller viel besser als der Philosoph, wie es ist, nicht zu hören und nicht zu sehen. Und was Kant hier schreibt, zeigt auch, wie man damals über Sprache dachte. Sprache heißt hier nämlich immer gesprochene, also Lautsprache. Wer nicht hört, ist nicht nur taub, sondern auch stumm. Er kann keine Sprache sprechen (also mit dem Mund), und deshalb hat er auch keine (richtige) Sprache… (Nur für den Fall, dass du es noch nicht weißt: Das Wort „taubstumm“, das Kant gebraucht, geht heute absolut nicht mehr!)
Es hat sehr lange gedauert, bis klar war, dass Sprache auch ganz anders sein kann als mit dem Mund gesprochen und gehört. Gebärdensprache zum Beispiel ist in Deutschland erst seit wenigen Jahren als Sprache anerkannt. Dass sich dieses Verständnis hier und anderswo allgemein durchgesetzt hat, daran hat Helen Keller einen Anteil.
Mit Fingern sprechen
Geboren wurde sie in den USA – in einer kleinen Stadt im Bundesstaat Alabama, deren bedeutendste Sehenswürdigkeit heute das Geburtshaus von Helen Keller ist. Helen Keller soll ein fröhliches, freundliches Baby gewesen sein. Aber als sie ungefähr anderthalb Jahre alt war und gerade zu sprechen begann, erkrankte sie an einer Virusinfektion. Als Folge dieser Krankheit konnte sie nicht mehr hören und nicht mehr sehen. Und sie war sozusagen tatsächlich stumm. Zu einer Zeit, in der Kinder normaler Weise das Sprechen lernen, hatte sie keinerlei Zugang zu irgendeiner Sprache. Sie konnte sich mit niemandem mehr verständigen und war wie ein aus der Welt gefallener Unglückswurm.
Das ging fünf Jahre so. Helens Familie war völlig verzweifelt. Schließlich engagierte sie eine teilweise blinde Lehrerin, die das Kind unterrichten sollte. Ganz klar war vermutlich nicht, wie das überhaupt funktionieren soll. Doch die blinde Lehrerin – sie hieß Anne Sullivan – brachte ihr ein Fingeralphabet bei. Jedes Wort wurde Buchstabe für Buchstabe mit der Hand übermittelt. Das ging natürlich nicht von heute auf morgen. Das taubblinde Kind musste überhaupt erst einmal verstehen, dass das, was es mit der Hand fühlt, eine Bedeutung hat. Dass die Berührungen sozusagen eine Brücke in die Welt sind.
Brücke und Wasser
Jede Sprache ist ja wie eine Brücke. Sie ermöglicht einen Zugang zur Welt und zu anderen Menschen. Vor allem aber ermöglicht sie einen Zugang zu sich selbst; also zu dem, was man ist und was man erlebt.
Das Üben mit dem Fingeralphabet dauerte zehn Wochen. Dann gab es das entscheidende „Brücken-Erlebnis“ – das erste Wort. Es lautete „Wasser“. Die Lehrerin buchstabierte das Wort „Wasser“ in Helens Hand und ließ zugleich Wasser über die Hand laufen.
An diesen Moment konnte sich Helen Keller später als Schriftstellerin noch sehr genau erinnern: „Wasser! Dieses Wort rüttelte meine Seele auf, und sie erwachte, erfüllt von der Tatkraft des Morgens … Bis zu jenem Tag hatte mein Geist einem abgedunkelten Raum geähnelt, der darauf wartete, das Worte in ihn eindringen und das Licht des Denkens entzünden würden. Ich lernte an jenem Tag viele Wörter.“
Ab diesem einen Moment konnte das Mädchen nicht nur die Welt erkunden und (im wahrsten Sinne) begreifen, was unsichtbar und unhörbar um sie herum war. Sie konnte vor allem auch sich selbst finden. Denn wer ist man, wenn man kein Wort dafür hat?
Sprache und „Ich“
Sechs Monate, nachdem Helen Keller das Wort „Wasser“ (und damit die Sprache) für sich entdeckt hatte, begann sie, sich selbst als „Ich“ zu bezeichnen. Auch darüber hat sie später geschrieben:
„Bevor meine Lehrerin zu mir kam, wusste ich nicht, dass ich bin. Ich lebte in einer Welt, die eine Nicht-Welt war … Ich verfügte weder über einen Willen noch über einen Intellekt. … Ich kann mich an all dies erinnern, nicht weil ich wusste, dass dies so war, sondern weil ich ein taktiles Gedächtnis habe. Deshalb kann ich mich daran erinnern, dass ich beim Denken nie die Stirn gerunzelt habe.“
Das heißt, Helen Keller konnte sich durchaus an die Zeit erinnern, in der sie ohne Sprache gelebt hatte. Es war eine Erinnerung, die nur aus Berührungen bestand, sicherlich auch aus Gerüchen, aus Empfindungen. Aber all das konnte sie niemandem mitteilen, nicht mal sich selbst.
Ich finde es schwierig, sich das überhaupt vorzustellen. Vorstellen geht eben auch nur mit Sprache. Die Welt bzw. die Gemeinschaft mit anderen beginnt eigentlich erst mit ihr. Helen Keller war acht Jahre alt, als sie zum ersten Mal mit anderen kommunizieren konnte: „Was für ein Glück! Frei mit anderen Kindern reden zu können! Sich in der großen Welt zu Hause zu fühlen!“
In der wurde Helen Keller dann noch eine berühmte Schriftstellerin und Aktivistin. Sie hat sich nicht nur für Behinderte engagiert, sondern auch für die Rechte der Schwarzen. Sie war mit dem Erfinder Alexander Graham Bell befreundet. Und sie war Sozialistin. Deshalb haben die Nazis ihre Bücher verbrannt. Und das FBI hat sie auch jahrelang beobachtet. Aber das sprengt jetzt schon den Rahmen dieses Artikels…
PS 1: Die Fotos zeigen die Hörgräte beim Belauschen alter Fotos von Helen Keller. Zu sehen sind auf den Fotos z. B. die siebenjährige Helen Keller mit ihrer Lehrerin, Hellen Keller, die an einer Rose riecht, und Hellen Keller, die mit der Hand die Schwingungen von Musik wahrnimmt.
PS 2: Die Zitate von Helen Keller stammen aus ihren Büchern „The Story of My Life“ (dt. „Mein Weg aus dem Dunkel“) und „The World I Live In“ (dt. Meine Welt).