Das Geheimnis der Paukenhöhle

die zweite der drei Expeditionen ins Ohr, Distanz ca. drei Millimeter
eine alte Trommel mit hölzernem Körper und gespanntem Fell, darüber zwei hölzerne Trommelstöcke

Unsere erste Expedition ins Ohr endete vor einer Wand, dem Trommelfell. Es ist rund, ungefähr so klein wie ein 1-Cent-Stück, grau, leicht nach innen gewölbt. Und es verschließt den Weg komplett. Kleine Höhlenforscher kämen hier nicht weiter. Natürlich wäre es möglich, sich gewaltsam einen Weg zu bahnen. Das Trommelfell ist hauchdünn und lässt sich relativ leicht durchstoßen. Doch ein Trommelfell zu beschädigen, um den Geheimnissen des Hörens auf die Schliche zu kommen, ist ziemlich dämlich. – Ungefähr so, als würde man eine Geige zerlegen, um Musik zu verstehen…

Also kein zerstörungswütiger Höhlenforscher. Stattdessen hatten wir uns bereits für unsere erste Expedition in ein „Hallo!“ verwandelt. Als gesprochenes „Hallo!“ schwingst du durch den Gehörgang, triffst auf das Trommelfell und kommst viel weiter als mit roher Gewalt. Du schwingst einfach so durch. Du löst etwas aus.

Über Kettenreaktionen

Vermutlich weißt du, was eine Kettenreaktion ist. – Eine Tür wird geöffnet; ein Besenstiel fällt und stößt an einen Kinderwagen; der Wagen rollt gegen ein Brett mit einem Wassereimer; der Wassereimer fällt dann natürlich um und immer so weiter. Im Prinzip löst auch du als „Hallo!“ eine solche Kettenreaktion aus, wenn du auf das Trommelfell triffst. Nur das alles noch hundert Mal exakter abläuft als in dem Beispiel: Als „Hallo!“ bringst du das Trommelfell zum Zittern. Es zittert in etwa wie ein Blatt Papier, das du vor einen Lautsprecher hältst. Das Trommelfell ist wie eine zarte Membran. Und die nimmt jede Feinheit deiner „Hallo!“-Welle exakt auf und leitet sie weiter – an ein paar andere Ohrteile, die hinter dem Trommelfell liegen und eins nach dem anderen in Aktion treten.

Blick in ein Schaufenster, in dem sich Licht spiegelt, dahinter stehen drei Kunstköpfe mit weiblichen Gesichtern und farbigen Duschhauben, auf der Fensterscheibe steht in blauen Buchstaben: Chain Reaction

Es gibt dort weder Besen noch Eimer. Dafür gibt es eine Höhle, die mit Luft gefüllte Paukenhöhle. Und in der sind ein Hammer, ein Amboss und ein Steigbügel. Das sind die Namen von drei Knochen; die kleinsten im menschlichen Körper. Alle drei sehen tatsächlich ein bisschen so aus, wie sie heißen. Und sie hängen aneinander. Sie sind wie eine schwingende Brücke über einem Abgrund. Der Hammer sitzt am Trommelfell und auf der anderen Seite am Amboss. Der Amboss hängt am Steigbügel und der wiederum hängt am gegenüberliegenden Rand des Abgrunds – in einem Fenster. Bis dorthin müssen wir jetzt. Und die drei Knöchelchen bekommen das problemlos hin. Zittert das Trommelfell, leitet der Hammer die Schwingungen weiter, dann geht’s zum Amboss und weiter zum Steigbügel. Der ist übrigens der aller kleinste Knochen, den wir haben. Er wiegt gerade mal ein 400-stel von einem Gramm.

Der Abgrund, über den uns die Knöchelchen-Brücke hinweg hilft, hat eine ganze Reihe hübscher Namen. Man nennt diesen Abgrund Ohrtrompete, Tuba oder auch Eustach‘sche Röhre. Und er führt bis runter in den Rachenraum. Er ist sozusagen ein Geheimgang zwischen deiner Mundhöhle und diesem mittleren Ohrbereich – dem Mittelohr.

Dass das stimmt, lässt sich nachprüfen. Du kannst zum Beispiel die Zunge nach oben gegen den Gaumen drücken und merkst dann, dass an deinem Trommelfell so ein Druck ankommt. Auch beim Schlucken merkt man es. Der Geheimgang sorgt dafür, dass auf beiden Seiten des Trommelfells der gleiche Luftdruck ist.

Ist der Luftdruck innen und außen nicht gleich, wird es mit dem Hören schwierig. Besonders gut lässt sich das bei Flugreisen erleben (dazu hier ein Beitrag mit Tipps für Flugzeug-Ohren). Beim nach oben und nach unten Fliegen kommt es zum Druckunterschied zwischen dem Außen- und dem Mittelohr. Das Trommelfell wölbt sich nach außen und die Kettenreaktion der Knöchelchen ist gestört. Man hat Druck auf den Ohren, hört schlechter und mitunter tut es ziemlich weh. Wenn man schluckt, lässt es irgendwann nach. Auch Bonbons oder Nasentropfen können helfen. Ober man hält sich nach dem Flug die Nase zu, und presst die Luft im Schädel so lange, bis der Deckel abfliegt oder die Ohren frei sind…

Über Druck im Ohr

Aber wir sind auf keiner Flugreise – sondern immer noch beim Durchqueren des Mittelohrs. Die drei Knöchelchen reichen jedes „Hallo!“ weiter – als winzige Impulse und bis ans andere Ufer. Aber natürlich gleicht kein „Hallo!“ einem anderen. Die winzigen Impulse transportieren eine Fülle zusätzlicher Informationen. Wie laut und wie hoch ist dieses „Hallo!“? Wurde es gesprochen, geflüstert oder geschrien? Wurde es mit russischem Akzent gesprochen oder elektronisch verstärkt? Stammt es von einer menschlichen Stimme oder von einem Papagei? Und kam es eigentlich von hinten oder von vorn? All diese Informationen müssen mit über die Knöchelchen-Brücke.

Du siehst daran, dass es sich um eine wirklich sehr ausgeklügelte Brücke handelt, die sich nicht ohne weiteres nachbauen lässt. Obwohl es in der Medizin heute möglich ist. Man kann Prothesen einbauen, wenn die Knöchelchen im Mittelohr nicht mehr funktionieren.

ein Click in ein Getriebe, in dem kleine Zahnräder ineinander greifen

Und noch was: Die Knöchelchen-Brücke ist so perfekt gebaut, dass sie in bestimmten Situationen die Weiterleitung unterbricht. Das passiert, wenn extrem lauter Schall auf das Ohr trifft. Dann klinkt sich der Steigbügel nämlich einfach mal aus. Er tut das, um das Innenohr vor Lärmschäden zu schützen.

Aber normaler Weise leitet der Steigbügel alles bis zu einem kleinen Fenster auf der anderen Seite der Paukenhöhle. Dieses Fenster ist oval; es heißt deshalb auch ovales Fenster. Und es wird von der Fußplatte des Steigbügels verschlossen. Auch die Fußplatte ist beweglich und schwingt. Wie das Trommelfell ist sie eine Trennwand – nämlich die zwischen Mittel- und Innenohr. Und sie ist zugleich ein Einstieg – in die dritte der drei Expeditionen ins Ohr.

PS: Die Fotos zeigen ein Trommelfell aus dem Museum für Kommunikation in Berlin; einen Laden, der aus einem mir nicht bekannten Grund „chain reaction“ heißt – also Kettenreaktion; außerdem kleine Zahnräder, die ineinander greifen, um irgendwas voranzubringen.


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