Schwerhörige Kinder kamen auf diesem Blog bislang nicht oft vor. Es gibt einen Beitrag über den Beginn des Hörens im Bauch und dann hier und da mal was. Nun folgt eine größere Artikel-Serie über Kinder, die nicht hören.
Zum Einstieg: Dass ein Kind nicht hört, ist ja zweideutig. „Bist du schwerhörig?“, bekommt jedes Kind irgendwann mal von Erwachsenen zu hören. Wenn ich jemandem erzähle, dass ich mit Hörgeräten zu tun habe, werde ich mitunter gefragt, ob sowas auch bei Kindern funktioniert – also bei gut hörenden.
Hören im Sinne von „gehorchen“ bzw. „Gehorsam“ und „Ungehorsam“ ist tatsächlich alles vom Wort „Gehör“ abgeleitet. Sicherlich kein Zufall. Hören ist eben der Sinn, der für soziales Miteinander besonders wichtig ist, der uns mit anderen Menschen mehr verbindet als das Sehen. Es gibt blinden Gehorsam aber nicht tauben Gesehsam…
Schwerhörige Kinder in Zahlen
Die allermeisten schwerhörigen Menschen werden erst im Laufe ihres Lebens schwerhörig. Aber es gibt Kinder, die von Beginn an nicht bzw. nicht gut hören können. Die Zahlenangaben schwanken etwas. Von tausend Neugeborenen, die in Deutschland das „Licht der Welt erblicken“, sollen ein bis zwei schwerhörig sein. Andererseits heißt es, dass hierzulande 1.800 bis 2.400 Kinder pro Jahr mit einem gravierenden Hörverlust zur Welt kommen. In jedem Fall liegt der Anteil weit unter einem Prozent. (Zum Vergleich: Von den über 70-jährigen sind mehr als die Hälfte schwerhörig.)
Die Wahrscheinlichkeit, ein schwerhöriges Kind zu bekommen, ist also sehr klein; vor allem, wenn es in der Familie sonst keine erblich bedingte Schwerhörigkeit gibt. Unterschiedliche Formen von Schwerhörigkeit können genetische Ursachen haben. Manche Forscher gehen davon aus, dass die Hälfte der Hörschäden – also auch derjenigen, die im Laufe eines Lebens auftreten – genetisch bedingt sind. Oft ist es jedoch sehr kompliziert, im konkreten Fall genetische Ursachen nachzuweisen.
Schwerhörige Kinder bekommen
Viel wichtiger als die Frage, warum Kinder als schwerhörige Kinder zur Welt kommen, ist im konkreten Fall die Frage, was das bedeutet – erst einmal für die Eltern.
„Die Nachricht, dass das eigene Kind schwer hören kann, ist für Eltern anfangs ein Schock…“ – Eine Aussage wie diese habe ich in verschiedenen Ratgebern zum Thema schwerhörige Kinder gefunden und viele Eltern schwerhöriger Kinder würden das sofort unterschreiben. (Dennoch ist es nicht für alle Eltern schwerhöriger Kinder so, aber dazu gleich noch.)
Wenn das Thema Schwerhörigkeit im eigenen Leben nie vorkam und man plötzlich ein Kind hat, das nicht hören kann, ist es sicherlich ein extremes, belastendes, verunsicherndes Erlebnis zu erfahren, dass das eigene Kind nicht hören kann.
In meiner Arbeit interviewe ich nicht nur Menschen, die nicht gut hören und dann mit Hörtechnik leben. Gerade bei jungen Menschen mit Hörtechnik – über die ich z. B. im Beitrag über die Generation CI geschrieben habe – begegne ich mitunter auch deren Eltern. Und vor allem, wenn es um kleine Kinder geht, führe ich das Interview mit Mutter, Vater oder beiden. (Weil man mit jemandem, der drei, vier oder fünf ist, nur sehr kurze Interviews führen kann – jedenfalls übers Hören.)
„Wie ein Schlag mit einem Hammer auf den Kopf“
Frau P. zum Beispiel habe ich vor Jahren mal für einen Video-Film interviewt. Sie hat zwei Töchter, die damals gerade in die Schule kamen und deren hochgradige Hörschädigung in den ersten Lebensmonaten erkannt worden war. Während des Interviews (sowie später im Film) blieb kein Zweifel, wie nah Frau P. die Erinnerung auch nach Jahren noch ging. Alles war wieder da:
„Als erstmals im Raum stand, dass beide schlecht hören könnten, habe ich das von mir gewiesen. Sie waren bei der Untersuchung erkältet; also hörten sie schlechter… – Vier Wochen später wurde der Test wiederholt. Plötzlich war es klar: Leonie ist taub und Mia hochgradig hörgeschädigt. Im ersten Moment war das, als hätte mir jemand einen Hammer auf den Kopf geschlagen.
Ich war allein mit den beiden in der Hörberatungsstelle. Ich hatte Mia auf dem Schoß, und zwei Stunden lang habe ich nur geheult. Man war besorgt, fragte mich, ob ich Hilfe bräuchte. Aber wie sollte die aussehen?! Ich habe die beiden Kinder ins Auto gesetzt und bin zu meinem Mann auf die Arbeit gefahren, um es ihm zu sagen: ‚Unsere Kinder sind taub. Sie hören nicht.‘ – Ich denke, so ganz verarbeitet haben wir bis heute noch nicht, was die Hörschädigung mit unserer Familie gemacht hat.“
Die andere Perspektive
Wie gesagt, gibt es auch Eltern, die die Nachricht, dass ihr Kind nicht hören kann, nicht (ganz) so erleben wie Frau P. – weil sie nämlich selbst schwerhörig sind bzw. gar nicht oder nur mit Technik hören und die Tatsache, dass ihr Kind nicht hören kann, aus einer anderen Perspektive sehen. Weil sie ja wissen, wie es ist, mit eingeschränktem oder auch ganz ohne Gehör zu leben. Es gibt sogar Eltern, die dafür kämpfen, dass ein gehörloses Kind in einer Welt der Stille aufwachsen darf und nicht unbedingt mit einem Cochlea-Implantat operiert werden muss.
Mir ist klar, dass das für viele, die die Perspektive solcher Eltern nicht haben, kaum bzw. gar nicht nachvollziehbar ist. Dennoch scheint es mir wichtig, zu verstehen, was für unterschiedliche Perspektiven es beim Thema schwerhörige Kinder gibt. Weil es ja auch zeigt, wie unterschiedlich die Wege sein können, mit einer solchen Herausforderung umzugehen. Letzten Endes müssen Eltern ja immer den Weg finden, der für sie und vor allem für ihr Kind am besten ist. Und auf der Suche danach kann wahrscheinlich nichts mehr helfen als die Erfahrungen anderer Eltern und vor allem anderer Menschen, die als schwerhörige Kinder aufgewachsen sind.
Deshalb baue ich hier am Ende auch noch einen Link zur Bloggerin Cindy Klink ein. Sie hat hörgeschädigte Eltern, und als sie drei Jahre alt war, wurde bei ihr auch eine Schwerhörigkeit festgestellt, die sich dann immer weiter verschlechtert hat. Sie sagt von sich, sie sei „Inkluencer Not Influencer“. Ihre Muttersprache ist Gebärdensprache. Und auf ihrem Blog steht, dass sie heute auf dem rechten Ohr taub ist, auf dem linken Ohr hört sie nur noch das, was ihr Restgehör mit Hörgeräten geben kann. Und sie hat ein Buch geschrieben: „Hören wird überbewertet“.
PS: Die Fotos zum Beitrag über schwerhörige Kinder zeigen Porträts von lauter Kindern der Amsterdamer Familie van Loon aus mehreren Jahrhunderten. Die Familie van Loon war sehr reich, und deshalb wurden auch ihre Kinder immer gemalt. Sie lebte in der Keizersgracht 672. Das Haus ist heute ein schönes, kleines Museum – voll mit gemalten Kindern. Wie gut sie hören konnten, weiß ich allerdings nicht.